Haltet den Dieb… nicht!

Aus einem der Häuser in unserer Straße wurde eine Küchengarnitur mit einem Tisch und vier Stühlen getragen und neben der Haustür abgestellt. Dazu kamen eine alte Wirtschaftswunderstehlampe und ein Karton mit einem kompletten und intakten Kaffeeservice.  Zehn Minuten später kamen ein paar junge Leute vorbei, hielten kurzen Kriegsrat und nahmen die Klamotten mit. Uneingeweihte hätten es für einen dreisten Diebstahl halten können, doch das Ehepaar, welches die Möbel nach draußen gestellt hatte, freute sich nur.

Was mir an unserem Quartier in dem kleinen Emscherdorf wirklich gefällt, ist seine Mischung aus Uhlenhorst, Eimsbüttel und Hoheluft mit einem Touch St. Georg vor der Gentrifizierung. man kann hier wirklich ganz kommodig leben.

Am meisten mag ich die unkomplizierte Art, miteinander zu teilen. Es gibt hier schon seit Ewigkeiten die Tradition, alle möglichen Dinge, die noch brauchbar sind, aber von einem selbst nicht mehr gebraucht werden, vor die Haustür zu stellen und einen Zettel zu verschenken drauf zu pappen, und das über alle sozialen Schichten hinweg.  Auch wenn eine der miesesten Begleiterscheinungen der heutigen Zeit, nämlich die Gentifizierung, mittlerweile auch hier fröhliche Urstände feiert, funktioniert das alte Gefüge noch. Es gibt immer Menschen, die weniger haben als man selbst, und mit denen teilt man.

Sharing is caring: Der Student verschenkt seine nicht mehr benötigten Lehrbücher ebenso wie der Anwalt seine sündhaft teure Designer-Schreibtischlampe, die er nicht mehr braucht. Niemand regt sich über den Kostenlos-Flohmarkt auf der Straße auf; Hauswirte helfen ihren Nachbarn sogar beim Runtertragen sperriger Sachen. Die soziale Ader unseres Quartiers, der ganze Zusammenhalt ist in Fernsehsendungen und Zeitungsartikeln gewürdigt worden.

Hier hat schon manches junge Paar die dringend benötigte Erstausstattung Geschirr für die erste gemeinsame Wohnung gefunden, ohne das von Erbtante Mildred geschenkte Sparbuch plündern zu müssen. Menschen haben Zugang zu Literatur gefunden, die sie sich selbst nicht leisten können. Ich selber habe schon mal eine lange gesuchte Schallplatte für meine Sammlung bekommen. Eine alleinerziehende Mutter konnte ihrem Kind das erste Dreirad schenken. Und so weiter. Hier bleibt nichts lange stehen – und niemand packt unbrauchbaren Krempel dazu, um seinen Sperrmüll zu entsorgen. Das verbietet der unausgesprochene Ehrenkodex.

Letzten Sommer trugen mein Mann und ich mal ein nicht mehr benötigtes Regal nach unten. Noch bevor wir es auf dem Trottoir abstellen konnten, wurden wir von zwei Studis angesprochen: „Braucht ihr das noch?“ Zehn Sekunden später trugen die beiden das Regal davon, ohne dass es zuvor den Boden berührt hätte. Als wir uns ein paar Wochen später im Biergarten eines nahegelegenen Parks zufällig wiederbegegneten, luden sie uns spontan auf ein Bier ein.

Ganz ehrlich, sowas ist doch viel mehr wert als der Geldeingang nach einer Onlineauktion, oder?