Engelsaugen

Mit einer Schellacksingle von Marilyn Monroe hat der musikalische Wochenausklang begonnen, danach bin ich aber doch auf digitale Medien umgestiegen – Smartphone an die Stereoanlage angeschlossen und Play in der Musik-App gedrückt. Zugegeben, das hatte nicht mal 1/10 der Atmosphäre, die ich bei Schallplatten so schätze, aber andererseits wollte ich nicht alle Nase lang mein Lesen unterbrechen, vom Sofa aufstehen und die Platte umdrehen bzw. wechseln.

So dudelte sich der Zufallsgenerator durch die Sammlung, gedämpfte Lautstärke hielt die Musikuntermalung unaufdringlich. Nur bei einem Lied hörte ich etwas näher zu. Eine schon ältere Aufnahme von John Grant, zusammen mit seiner alten Gruppe The Czars eingespielt. Eine Coverversion des Songs Angeleyes (bei YouTube zu finden), ursprünglich von ABBA. Eigentlich trifft der Begriff Coverversion es nicht richtig. Es ist vielmehr eine komplette Neuauslegung des Songs und seines Inhalts.

ABBA kommt mit schnellrhythmischen, helltönigen Disco-Elementen daher als Metapher für die Verdrängung des Schmerzes, den die Enttäuschung über den untreuen Ex gebracht hat. Darüber hinaus symbolisieren sie vielleicht auch ein wenig Rache ist süß, denn der Text richtet sich ja nicht an ihn, sondern an die Neue an seiner Seite, die davor gewarnt wird, worauf sie sich einlässt. Die Geschichte wird dann nach erfolgreicher Aktion der besten Freundin erzählt.

Ganz anders The Czars. Die Instrumentierung ist minimalistisch und rein akustisch arrangiert, das Tempo langsam, und John Grant singt mit einer tiefen Melancholie, welche die eigentliche Traurigkeit der Story und des Textes deutlich, aber nicht theatralisch betont.

ABBA geht sozusagen in die Disco und tanzt sich den Schmerz aus dem Leib, John Grant hingegen sitzt am Tresen seiner Stammbar, ist nicht mehr ganz nüchtern, und erzählt seine Geschichte dem Barmann. Wahrscheinlich ist es sogar eine Gay Bar, denn der für Agnetha und Anni-Frid geschriebene Text bleibt unverändert, so dass John Grant von einem Mann erzählt, der seinen Mann verloren hat. Eine Facette, welche die Czars-Version noch eindringlicher macht.

Schon spannend, dass ein und derselbe Song so verschiedene Stimmungen transportieren kann.

Auftakt

MonroeDen dünnen Papierumschlag von allen Seiten betrachten. Die Werbung lesen.

Darin eine schwarze, runde Scheibe aus Schellack. Vorsichtig rausziehen und in die Hand nehmen. Ins Licht halten, das sich bricht in etwas, das wie tausend mikroskopisch kleine Schluchten wirkt, in Wahrheit aber nur eine einzige spiralförmige Rille ist.

Die schwarze Scheibe auf den Plattenteller legen.

Den Spieler in Gang setzen. Die Platte beginnt, bei 78 Umdrehungen pro Minute zu rotieren.

Den Tonarm vorsichtig auflegen.

Statisches Knistern.

Dann endlich die Klänge, auf die man sich gefreut hat.

Schöner kann man dem Wochenende kaum seinen Auftakt geben: Musik nicht einfach konsumieren, sondern zelebrieren.