Das schmutzige Wort mit G

Lange kam unser Quartier in punkto wohnen ein wenig wie das sprichwörtliche Gallierdorf daher. Während alle anderen Ecken der Stadt mal schöner wurden, mal etwas mehr verkamen und vice versa, blieb hier eigentlich immer alles gleich. Ganz selten mal, dass ein Haus neue Fenster, ein neues Dach oder gar einen Anstrich bekam. Die einzige Veränderung war und ist, dass fast an jedem Wochenende in irgendeiner Straße ein Umzug stattfindet – was dann aber wiederum gleichzeitig eine der Konstanten ist, zeigt es doch, wie beliebt und erstrebenswert es nach wie vor ist, hier zu wohnen. Vor allem auch wegen seiner spannenden Mischung aus Studis, Künstlern, Arbeitern, Akademikern, Lebenskünstlern jeder Couleur und Nationalität in sympathischem Miteinander.

Seit etwas über einem Jahr hat sich das Bild gewandelt. Vor Häusern, von denen man dachte, ihre Besitzer würden sie eher einstürzen lassen, als dass sie auch nur einen Cent in den Erhalt investieren, schnellen plötzlich Gerüste in die Höhe. Auf einmal werden nun doch neue Fenster eingebaut, Dächer neu gedeckt, Fassaden gestrichen. Teilweise aufgegeben wirkende Gemäuer werden zu neuem Leben erweckt. Das Quartier wird schicker.

Mit der Optik ändert sich auch die Atmosphäre. Die Latte Macchiato-Muttis mit ihren Designerkinderwagen und den Kalendern voll mit Terminen zum Baby-Yoga sind angekommen. Noch nicht im Übermaß, aber genug, um unübersehbar zu sein. In einigen Cafés kehren jetzt die überteuerten Angestellten des lokalen Bolzvereins ein. Sehen und gesehen werden.

Wechsel bei den Geschäften: Bunte Sammelsurienläden weichen schicken Einrichtungsstudios, Alternatives dem Mainstream. Die etwas rummelige Pommesbude macht dem schicken Burgerladen (natürlich mit veganer Abteilung auf der Speisekarte) Platz.

 

Offen ausgesprochen habe ich das Wort hier noch nicht gehört, aber es schwebt unsichtbar über dem Quartier. Das böse Wort mit G. Gentrifizierung. Derzeit mit einem Fragezeichen dahinter. Doch zuckt es nicht manchmal, als wolle es sich in ein Ausrufzeichen verwandeln? So wie es in Hamburg, Frankfurt, München, Berlin längst geschehen ist?

 

Im Moment hält die Waage sich. Wie lange noch?

Erwischt!

OLYMPUS DIGITAL CAMERAManchmal möchte man so gerne versinken. In den smaragdrünen Augen des Fremden, der einem in der Straßenbahn gegenübersitzt. In einem heißen Schaumbad nach einem langen Tag. Im neuen spannenden Krimi, obwohl man genau weiß, dass man eigentlich eine ganzen Korb voll Hemden zu bügeln hätte. Oder einfach im Boden, weil einem etwas so richtig peinlich ist.

Gestern Abend traf letzteres zu. Ich war nämlich gerade dabei, mein Guilty Pleasure zu genießen – also jenes kleine Geheimvergnügen, das man mit allen Mitteln vor der Welt verbirgt -, als meine Nachbarin klingelte. Alles durfte sie mitkriegen, nur das nicht. Also schnell den Verstärker der Stereoanlage ausgeschaltet, der CD-Player konnte auch stumm weiterlaufen. Leider muss ich in der Hektik den Knopf wohl versehentlich zweimal gedrückt haben, denn kaum hatte ich der Nachbarin die Tür geöffnet, waren diese zehn Sekunden vorüber, die das System des Verstärkers braucht, um wieder hochzufahren, und meine Nachbarin hörte, wie das Wohnzimmer mit der Stimme von Audrey Landers erfüllt wurde. Audrey Landers!!! Ich spürte, wie ich puterrot wurde.

Als die Nachbarin zehn Minuten später wieder weg war, kam ich mir ziemlich albern vor. Gut, Frau Landers‘ Songmaterial bei Ariola war ziemlich übel, weil quasi deutscher Schlager mit englischen Texten (nur das eine Album auf WEA – und genau das hatte ich gehört – war annehmbarer 80er-Jahre-Pop, weil von den selben Produzenten zusammengestellt, mit denen damals auch Jennifer Rush arbeitete). Und wenn sie live auftrat, hampelte sie wie eine Marionette aus der Augsburger Puppenkiste. Aber sie war im Gegensatz zu anderen Soap-Sternchen aus Dallas und Denver, die vors Mikrophon gezerrt wurde, die einzige, die wirklich singen konnte, und ich mag ihre Stimme heute noch, dreißig Jahre später.

Trotzdem hat es immer irgendetwas Anrüchiges, wenn man zugibt, Frau Landers zu hören. So wie alle Guilty Pleasures etwas Anrüchiges haben. Aber warum eigentlich? Für gewöhnlich sind sie doch ganz harmlos. Zum Beispiel kiloweise Dominosteine von Weihnachten bunkern, um sie auch im Sommer genießen zu können (Bevor böse Gerüchte aufkommen: Nein, das ist keins meiner Guilty Pleasures, ich mag das ganze Weihnachtsgedöns überhaupt nicht!). Jemand anders zeichnet seit Beginn an alle Folgen von Reich und schön auf (DITO!!!!). Alles ganz harmlos, und trotzdem wird es so geheim wie möglich gehalten.

Wahrscheinlich ist es der Reiz, etwas zu tun, das vielleicht nicht verboten ist, aber das zumindest nicht von jedermann goutiert wird. Diese Verlockung, gegen Regeln zu verstoßen, und seien es nur die des guten Geschmacks. Dazu der Reiz, möglicherweise dabei erwischt zu werden. Und jedesmal, wenn wir unser geheimes Vernügen unbemerkt durchgezogen haben, ist da auch ein Triumph wie beim Juwelendieb, der die Polizei überlistet hat.

Irgendwie macht das doch Spaß, also tun wir es – bis wir erwischt werden. Dann ist es uns erstmal entsetzlich unangenehm. Hinzu kommt eine gewisse Enttäuschung, denn plötzlich ist das geheime Vergnügen kein geheimes Vergnügen mehr, weil es jetzt einen Mitwisser gibt. Das Guilty hat sein Pleasure verloren.

Genauso ging’s mir gestern auch. Obwohl noch acht Lieder auf dem Album von Frau Landers übrig waren, hatte ich plötzlich gar keine Lust mehr, es zu Ende zu hören.

Aber ich habe mir gleich Gedanken gemacht, welche musikalischen Jugendsünden es noch gibt, die ich für gewöhnlich unter strengstem Verschluss halte. Bin auch prompt fündig geworden.

Was es ist?

Verrat ich nicht.

Am Tag, als der Regen kam

So schnell kann’s gehen…

Am letzten Freitag habe ich in den Häppchen zum Wochenende noch davon gesprochen, dass unsere geschätzte Untermieterin Thekla einen unbefristeten Mietvertrag bekommen hat.

Heute ist sie nicht mehr da, auch ihr gesamter Hausstand ist weg. Ob sie freiwillig ausgezogen ist oder ob der Dauerregen vom Wochenende alles weggespült hat, weiß ich nicht. Doch ich hoffe, sie hat eine neue Unterkunft gefunden, die wettergeschützter ist, und es geht ihr gut.

Atschüüß, Thekla. Mook dat goot, Deern. Un kiek mol wedder in.

Häppchenweise

Moin!

Zum Start ins Wochenende wieder ein paar Häppchen aus dieser verrückten Sache, die sich Leben nennt.

Nerv-Happen

Die neue Radio-Reklame für Black Forest Mineralwasser mit der plumpen Forrest Gump-Anleihe ist so penetrant nervtötend, dass man sich schon fast freuen würde, wenn stattdessen Seitenbacher käme…

Zitat-Happen

Ich will nicht sagen, dass ich viel Kaffee trinke, aber kolumbianische Bauern haben ein Foto von mir im Portemonnaie. (aus dem Web)

Schreckens-Happen

Aufdruck auf der Tee-Schachtel: „…mit sprudelnd kochendem Wasser aufgießen und mindestens 8 Minuten ziehen lassen! Nur so erhalten Sie ein sicheres Lebensmittel!“ Langsam traut man sich ja gar nicht mehr, noch irgendetwas zu essen oder zu trinken. Was passiert, wenn ich den Beutel schon nach 7 1/2 rausnehme? Kommt dann die leichte Note von Schierling, Belladonna und Fingerhut durch, oder was? Man kann es mit den Warnhinweisen auch übertreiben!

Literatur-Happen

Schon seit einer Woche geplant, aber erst heute Gelegenheit dazu, es umzusetzen (die Autobiographie von Dame Vera Lynn hatte sich noch dazwischengemogelt): Beginn der kompletten DCI Banks-Serie von Peter Robinson, Roman 1 von insgesamt 22. Ich mag diesen Schnüffler einfach. Spannende, abwechslungsreiche Plots und eine glaubhafte Entwicklung über die Jahre beim Hauptcharakter sowie ein wechselndes Ensemble von Nebencharakteren, die dem natürlichen Lauf von Beförderungen und sich wandelnden Lebensplänen folgend in der Serie auftauchen und wieder verschwinden. Für mich aus Laiensicht die glaubwürdigste Darstellung von Polizeiarbeit in den Yorkshire Dales.

Musik-Happen

Heute gibt’s mal wieder einen Vinylabend auf dem Fußboden vor Schwiegeropas alter Musiktruhe, natürlich mit ’nem Gläschen Wein. Auf dem Programm: Jazz-EPs von Count Basie über Ella Fitzgerald und Satchmo bis Caterina Valente. Vielleicht werde ich auch noch ein paar Schellacks von Billie Holiday und Glenn Miller spielen.

Freuden-Happen

Seit sage und schreibe sechs Wochen blüht unsere Orchidee Horst-Kevin (bei uns haben alle Blumen Namen) und denkt gar nicht damit aufzuhören.

Glücks-Happen

Spinnen bringen bekanntlich Glück, und darum wird bei uns nie eine beseitigt, allenfalls umgesiedelt. Aber Thekla (man kennt ja seine Biene Maja) hat den ganzen Sommer über so schön die Wespen aus unserer Küche gehalten, dass sie ihr Single-Apartment vor unserem Fenster behalten darf. Und beide Seiten sind glücklich.

Futter-Happen

Rohe Kohlrabi auf frisch gebackenem Brot zum Abendessen. Ik frei mi nu schon…

Foto-Happen

Ausbesserungsarbeiten an der Queen Mary 2. Es gibt Jobs, die man nicht unbedingt selber ausüben möchte…

Schönes Wochenende!

Zwischenbilanz

OLYMPUS DIGITAL CAMERAKinder, wie die Zeit vergeht. Merkt man oft dann, wenn man mal Ordnung in seinen Unterlagen schafft. Eine alte Gehaltsabrechnung noch in D-Mark – klar, ist ja auch von 2001! Ein altes HVV-Ticket von 2005 – was, so günstig war das Tagesticket für den Großbereich Hamburg mal? Die Rechnung für eine geliebte, aber als Japan-Import auch sehr teure CD – vierundsechzig Mark plus Porto und Zollgebühr für gerade mal zwölf Lieder. Oh… Da ist ja auch der erste Buchvertrag von 2009.

Fünf Jahre und drei weitere Bücher plus ein reines eBook sind also seit der Veröffentlichung meines Erstlings Strandkorb mit Rüschengardinen vergangen. Gelegenheit, mal einen Blick in die „olle Kamelle“ zu werfen. schauen, was ich damals verzapft habe.

Vor allem sehe ich Anfängerfehler über Anfängerfehler. Zuviel Vorgeschichte. Ein bisschen zu sehr Idylle. Zudem bin ich voller Sendungsbewusstsein in meiner Absicht, das schwule Leben als ganz normal darzustellen, manchmal viel zu weit übers Ziel hinausgeschossen und habe durch Überbetonung das Gegenteil bewirkt: Das Normale zur Außergewöhnlichkeit verkehrt.

Und dann der riesige Tippfehler, den sowohl ich als auch das Lektorat bei allen Besprechungen übersehen haben… An den ein oder zwei Stellen, wo der Ich-Erzähler einmal bei seinem Namen genannt wird, prangt nicht das eigentlich vorgesehene fiktive Tim Hansen, sondern mein eigener Name. Ja, natürlich sind einige Dinge autobiographisch eingeflossen, doch insgesamt ist vieles, vieles, vieles ist reine Fiktion. Eigene Erfahrungen teilen, gerne – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Also mussten reale Erlebnisse durch vollkommen neu ersponnene ersetzt werden. Von den Namen ganz zu schweigen… da stimmt nicht ein einziger.

Bei der 2. und 3. Auflage ist der Tippfehler auch drin geblieben. Ich hab’s als Mahnung genommen, was passieren kann, wenn man als Erstling eine Ich-Erzählung schreibt und man sich zu sehr an seinen Lieblingsautoren orientiert. Aber damit stehe ich nicht alleine – selbst um Myriaden größere Autorengeister als ich es bin haben diese Absolute Beginner-Erfahrung gemacht. Agatha Christie etwa hat sinngemäß geäußert, dass ihre ersten drei, vier Romane genausogut Abenteuer von Sherlock Holmes und Arsène Lupin hätten sein können, weil sie sich zu sehr von von ihren Autorenidolen Sir Arthur Conan Doyle und Maurice Leblanc hat beeinflussen lassen. Warum sollte es mir kleinem Licht da anders gehen?

Ich weiß – im Nachhinein findet man bei allem stets etwas, das man heute anders machen würde. Bleibt doch nicht aus, denn man hat Erfahrungen gesammelt, die eigene Schreibe entwickelt und verfeinert sowie den Blick geschärft.

Trotzdem: Anders als einige Musiker, die schamhaft ihre ersten großen Hits verleugnen und sich teilweise sogar weigern, überhaupt drüber zu sprechen, stehe ich weiterhin zu diesem Buch. Mit allen Fehlern, die da drin sind. Jeder von uns hat mal seine erste Zeit irgendwo gehabt, sei es im Beruf, sei es ehrenamtlich, sei es als Ehemann – sonstwas. Jede Erwartung einer perfekten Leistung an diesem Punkt ist Unfug. Wir tasten uns ran, tapern herum, haben kleine Einbrüche auf dem dünnen Eis bis wir die tragenden Stellen gefunden haben. Rückblickend kann/soll/darf man dann auch stolz auf den ganzen Weg sein – inklusive der nassen Füße, die man sich geholt hat. Und auf den ersten Schritt erst recht.

Ein Bett für den Kartoffelbrei

KartoffelbreiÜberall hört man man vom Energiesparen, und es gibt die tollsten Modelle dafür, ich brauche sie gar nicht aufzuzählen. Keine Verbrauchersendung in Funk und Fernsehen, keine Zeitungsrubrik, die uns nicht täglich die neuesten sensationellen Tips verrät.

Unsere Großeltern und Urgroßeltern können darüber nur müde lächeln. Die waren nämlich lange vor uns in der Verlegenheit, mit wenig Energie auszukommen. Damals nannte sich das nur nicht Umweltschutz sondern Stromsperre und war ein (nach)kriegsbedingter Auswuchs, mit dem es gewitzt umzugehen galt.

Wir können uns das heute gar nicht mehr vorstellen – wir werden ja schon hysterisch, wenn mal die Sicherung rausfliegt und für fünf Minuten das Internet nicht funktioniert, wir unser Smartphone nicht aufladen können. Von unserem Kaffeevollautomaten gar nicht erst zu reden!

Doch Generation Oma hatte gar keine andere Wahl, wenn es nur ein oder zweimal am Tag für nur jeweils eine Stunde Strom (und auch Gas gab). Das ganze war obendrein noch streng kontingentiert, und wer am Monatszehnten (oder vielleicht sogar eher…) seine Ration schon aufgebraucht hatte, konnte bis zum nächsten Ersten seine Kartoffeln einzeln über einer Kerzenflamme einem Hindenburglicht rösten.

Doch Not macht bekanntlich erfinderisch. Beim Kochen beispielsweise: Sollte es etwa Stampfkartoffeln geben, wurden die Kartoffeln ganz normal geschält und dann in einen Topf mit Wasser gegeben. Deckel drauf, ab auf den Herd damit, und zwar gerade eben nur so lange, bis das Wasser richtig zu sieden anfing. Dann musste es ganz schnell gehen: Flamme aus, den Pott in zwei Handtücher, noch eine dicke Wolldecke drum und dann das Ganze unter die dicken Winterplumeaus ins Bett gepackt. Nun musste man noch einfach zwei, drei Stunden Geduld haben, und dann waren die Kartoffeln weich genug, um gestampft zu werden. Manchmal waren sie sogar schon so zerfallen, dass einfaches Rühren reichte. So wurde mit allen Gerichten verfahren: Eintöpfe, Äpfel fürs Kompott, Hühnerbrühe mit Reis, Graupensuppe, Haferschleim… Alles wurde zum Fertiggaren in die Heia gebracht.

Manch handwerklich begabter Mitmensch der damaligen Zeit erlebte einen wahren Kreativitätsschub. Mit Hilfe alter Koffer, Nachtkommoden, Wäschetruhen, vor allem aber ausrangierten Kissen und Decken wurden ganz raffinierte Kochmöbel gebaut, doch die meisten waren mit der Bettmethode vollkommen zufrieden. Was aus einmal aus der Not geboren wurde, entwickelte sich später, als Gas- und Stromsperre der Vergangenheit anhörten, zum echten Modell für das Portemonnaie der sparsamen Hausfrau, zumal diese Methode auch zum Warmhalten bestens geeignet war. Meine Oma selig hat bis zum Schluss so gekocht und durfte sich jedes Jahr über eine satte Rückzahlung bei der Stromabrechnung freuen, während alle um sie herum über die Nachzahlung stöhnten.

Natürlich braucht diese Methode einiges an Zeit, zumal jedes Gericht verschieden lange dauert, aber was soll’s? Wenn man den organisatorischen Dreh raus hat, funktioniert es ganz wunderbar. Ich hab’s erst heute wieder einen Pott Kartoffeln so „gekocht“.

Inzwischen kommt dieses langsame Kochen wieder richtig in Mode, nennt sich Slow Cooking im Crock Pot, gilt nicht nur als energiesparend wegen des geringen Verbrauchs, sondern auch als unheimlich gesund, weil so schonend gegart wird, und kostet in der Anschaffung erstmal einiges an Geld. Ich bleib da bei der von Oma gelernten Methode – dafür habe ich alles da und ich freue mich jedes Jahr über eine satte Rückzahlung bei der Nebenkostenabrechnung, während um mich herum…

Hafengeschichten

He lücht (plattdeutsch für er lügt, auch: Helücht) ist nicht nur im Volksmund, sondern seit 1956 auch hochoffiziell die Bezeichnung für die lizensierten Barkassenkapitäne und anderen Fremdenführer Hamburgs, die Besuchern von Auswärts die Schönheiten der Hansestadt auf dem Wasserweg nahebringen und ihre Ausführungen dabei mit allerlei Ausschmückungen versehen, bei denen nicht immer klar ist, ob sie echt sind oder nur gut gesponnenes Seemansgarn.

Es gibt auch ein paar inoffizielle He lücht. Sie begegnen einem auf den Landungsbrücken, ganz am äußersten Ende bei der Rickmer Rickmers oder oben auf der Hafenpromenade, am meisten sind sie auf den diversen Hafenfähren vertreten, besonders auf der besonders populären Linie 62, Landungsbrücken – Finkenwerder – Landungsbrücken. Es sind ältere Herren von kräftiger Figur, guter Konstitution, mit robuster Kleidung, Elbsegler und wettergegerbtem Gesicht. Fast jeder von ihnen hat eine Tätowierung auf dem Unterarm. Scheinbar zufällig geraten sie mit den neben ihnen sitzenden Touristen in einen Schnack. Sie wissen genau, wen sie ansprechen können – das junge knutschende Pärchen sicherlich nicht, das will seine Ruhe haben. Dafür aber das Elternpaar mit dem Sohn, der so überwältigt ist vom Hafen, dass er kaum weiß, wohin er so zuerst gucken soll. Auch die beiden Witwen, welche die aufregende Reise von der münsterländischen Provinz in die Weltstadt angetreten haben, sind dankbare Zuhörer.

Der Gesprächsanfang wird geknüpft, dann erzählen die inoffiziellen He lücht zunächst viel über den Hafen. Kompetent, informativ und vor allem spannend reden sie von exotischer Fracht, der geheimen Ketelklopper-Sprache der Hafenleute und so weiter. Spätestens beim letzten Stop auf dem Rückweg zu den Landungsbrücken wechseln sie das Thema und sprechen von ihrer Jugend in der guten alten Zeit der Schifffahrt, als sie auf dem im Hafen als Museumsschiff liegenden Cap San Diego zur See gefahren sind. Da ist viel von Kameradschaft die Rede, vom Unterschied zwischen Tramp- und Linienschifffahrt, aber auch von Sturmfahrten, fernen Destinationen und dem Stolz, bei ausgerechnet dieser Reederei mit diesem Schiff gewesen zu sein.

Sie ist ja auch wirklich eine Schönheit.

Wahrscheinlich die ehrenamtlichen He lücht nicht wirklich alle auf der Cap San Diego unterwegs gewesen. Einige sind vielleicht auf einem der fünf Schwesterschiffe gefahren, der Cap San Nicolas etwa oder der Cap San Marco. Der ein oder andere mag für eine ganz andere Reederei unterwegs gewesen sein. Auf einem Schiff, dessen Namen heute niemand mehr auf dem Schirm hat, bei dem keiner zuhört, der nicht „zieht“. Bei der Cap San Diego werden die Ohren allerdings gespitzt.

Und wen schert schon diese kleine Ungenauigkeit? Diese Herren erzählen mit Wissen, echter Leidenschaft und einem feinen Gespür für das, was die Menschen über die Seefahrt hören wollen, nämlich den romantischen Teil.

Machen wir uns nichts vor – die Seefahrt war noch nie romantisch. Sie war… ist hart, entbehrungsreich, gefahrvoll… Völlig egal wie modern inzwischen alles geworden ist. Doch Menschen hören genau so gerne Geschichten wie sie welche erzählen, besonders solche von Abenteuern, am besten mit Happy End. Beobachtet man eine solche Szene mal, dann fällt auf, wie sich Erzähler und Zuhörer meist entspannen, selig, weil sie zuhören können und ihnen zugehört wird. Ein wenig so wie damals, wenn Oma am Krankenbett des kleinen Enkels gesessen hat und mit spannenden Märchen die Gedanken vom Husten, von den juckenden Windpocken oder dem schmerzenden Mumps abgelenkt hat. Darum freu ich mich auch immer, so etwas miterleben zu dürfen, wenn ich selber auf der 62 unterwegs bin.

Hochzeitstag oder so…

Für gewöhnlich habe ich ein gutes Zahlengedächtnis. Ich kann noch heute die 12stellige Telefonnummer meines Onkels und meiner Tante aus Wormerveer bei Amsterdam auswendig, obwohl die beiden schon vor über zwanzig Jahren an den Ort vorgegangen sind, an dem wir alle mal ankommen. Ebenso kann ich noch die Zahlenkombination meines allerersten Fahrradschlosses genauso runterbeten (schlappe 35 Jahre her) wie mir bei vielen Mitarbeitern, deren Gehaltsabrechnung ich in meinem allerersten Job nach der Ausbildung erstellt habe, zuerst deren Personalnummern und dann die Namen ins Gedächtnis kommen.

Nur mit aktuellen Zahlen hab ich es nicht immer so. Ich versuuse jedes Jahr meinen Hochzeitstag. Dabei vergesse ich ihn nicht mal – ich runde das Datum sozusagen nur großzügig auf.

Am Montag war es wieder so weit: „Was machen wir eigentlich Freitag?“ frage ich meinen Mann. „Wieso Freitag?“ kommt die Antwort. „Na, da ist doch der Zwölfte…“ Strafender Blick von meinem Mann, peinlich berührter von mir.

Dabei ist es überhaupt nicht meine Schuld! Wir wollten ja damals am zwölften September heiraten, einem Freitag. Nur stand freitags der von uns ausgesuchte „Tatort“ nicht zur Verfügung – ein historisches Hafengebäude. Dort wurde wegen des Aufwands nur mittwochs getraut, also sind wir auf den zehnten umgestiegen, zwei Tage vorher. Nur meine zerebralen Tentakel („Gehirn“ könnte eine zu optimistische Umschreibung sein) scheinen die Umstellung bis heute nicht mitgemacht zu haben – der Zwölfte hat sich geradezu unauslöschlich eingebrannt.

Sehr zum Amüsement meines Herrn Gemahl, der keine Gelegenheit auslässt, mir diese Peinlichkeit unter die Nase zu reiben. Vorhin kam er von einem Arztbesuch wieder und überreichte mir breit grinsend einen Strauß Blumen: „Alles Liebe zum Nicht-Hochzeitstag.“

Ich bin also verrückte Hutmacher aus Alice im Wunderland…

Naja, zumindest in punkto Hochzeitstag wäre jedes Abstreiten ein glattes Eigentor.

Ausge-Bremst

Am Freitagmorgen hat mich unterwegs beim Lauftraining irgendein Viehzeug hinten in den Oberschenkel gestochen. Erstmal nix Besonderes für ’n Jung vun’t Dörp. Da ist man mit dem, was da kreucht und fleucht so sehr auf Du und Du, dass man den Weberknechten zum Geburtstag gratuliert und zur Beerdigung der Eintagsfliege einen Kranz schickt. Unterwegs Speichel drauf, zuhause dann Gel und gut is‘.

Am Sonnabendmorgen war die Stelle allerdings auf Untertassengröße angeschwollen und knüppelhart geworden, so dass ich den ganzen Tag wie ein Kollateralschaden der Französischen Revolution durch die Gegend gehumpelt bin. Wie erniedrigend ist das denn, bitte schön? Wegen eines Insektenstichs! So eine Petitesse eignet sich nun wirklich nicht für dramatische Heldenepen beim Bierchen mit Freunden. Das sind die Momente, in denen einem ein zünftiger Sportunfall mit Wadenzerrung deutlich lieber wäre! Diese bunten Kinesio-Tapeverbände sehen auch allemal cooler aus als ein ausrangiertes, mit Essig getränktes Küchenhandtuch für einen kalten Umschlag.

Mein Mann hatte mit mir nix zu lachen…! Ich bin kein einfacher Patient. Betüddelt werden und viktorianisches Leidensritual (bleiche Gestalt mit Märtyrermiene in bodenlangen Gewändern, ein mit billigem Eau de Cologne-Abklatsch getränktes Tuch an die Stirn gehalten, drumherum unberührte Speisen) sind Dinge, die mich zur Nitroglyzerinampulle machen. Ich bin eher der Typ, den man mit Zwangsjacke und Hochleistungssedativum davon abhalten muss, auch mit 39,8 Fieber, Lungenentzündung und gebrochenem Bein ganz normal Haushalt, Arbeit und Sport zu machen.

Dennoch bin ich kein ganz hoffnungsloser Fall. Nachdem die Einstichstelle in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag nochmal etwas fieser geworden war, fand ich mich gestern Morgen dann in der Ambulanz der örtlichen Klinik wieder. Da war wohl ein Antibiotikum angesagt.

Drei Stunden hat die Warterei gedauert – für nicht mal 10 Minuten Behandlung! Diagnose: Bremsenstich mit mittlerer Reaktion ohne Komplikationen, kein Antibiotikum notwendig. Es gab ein Allergielgel und die Empfehlung, zuhause kalte Umschläge mit Essig oder essigsaurer Tonerde zu machen, das Bein hochzulegen und zu schonen.

DANKE! SOWEIT WAR ICH SCHON!!!

Dann die Krönung: Kein Lauftraining bis mindestens Mittwoch. Ausgebremst von einer Bremse…. Hey, wo kommt auf einmal dieses aggressive Pochen in meiner Halsschlagader her???

Nun ja, der Wahrheit und Vollständigkeit halber: Besser so, als wenn’s schlimmer gekommen wäre.

Eins wundert mich trotzdem – warum immer so spät in der Saison? Letztes Jahr hat mich der einzige bemerkenswerte Insektenstich sogar erst auf den letzten Drücker an Altjahrsabend ereilt. Was bin ich für die Viecher eigentlich? Eine Spätlese?

… in Frieden

Gestern und auch noch heute Morgen hat der Artikel einer amerikanischen Seite mit Hollywood-Nachrichten die Facebook Gemeinde in Aufruhr versetzt. Die Schlagzeile lautete:

Actress Betty White, 92, Dyes Peacefully In Her Hollywood Home

Und sofort brach der RIP-Storm los. Überall las man plötzlich: „RIP Betty“ – „Such a loss“ – „Last Golden Girl gone – so sad“ – „Oh no!“ und so weiter. Alle Welt trauerte um die beliebteste Fernsehkomödiantin der letzten fünfundsechzig Jahre. Aber warum? Nur weil da Actress Betty White, 92, Dyes Peacefully In Her Hollywood Home stand?

Klingelt’s?

Nein?

Ach, kommt…

Nicht auf die Aussprache kommt’s an – das Y macht’s!

Dies = die = sterben

ABER:

Dyes = dye = Haare färben!

Und der Schlagzeile folgte ein humorvoller Artikel darüber, dass Betty White seit Jahrzehnten ihre Haare blond färbt – und zwar selber in den eigenen vier Wänden, weil es einfach mehr Vergnügen macht als stundenlang beim Coiffeur zu sitzen.

Betty White, 92, Dyes Peacefully… Das OK für eine solche Schlagzeile zu geben…! Diese Fähigkeit, über sich selbst zu lachen – und was für ein herrlicher schwarzer Humor. Ich liebe es! Diese Frau ist unvergleichlich. Unbezahlbar. Wunderbar.

Die englische Sprache mag voller False Friends, also Falscher Freunde, sein (Deswegen sind sie ja auch so ein beliebter Fallstrick in Klausuren. „I become a steak“ – ein Klassiker!), doch an Betty Whites Inspiration, was man Tolles aus dem Alter machen kann, ist definitiv nix falsch. Ich hoffe der echte Verlust dieser Ikone bleibt uns noch lange erspart!

Lieblingsfarben und Tiere

Eigentlich gehört die Gruppe Element of Crime so gar nicht zu meinem musikalischen Mikrokosmos. Klar, man kennt Delmenhorst, das immer besser wird, je mehr man sich auf einer Party einen antüddert, aber ansonsten sind die Jungs um Sven Regener mir kaum über den Weg gelaufen. Kein Wunder bei dem, was ich sonst so höre…

Dieser Tage jedoch gibt’s kaum ein Entrinnen. Der lokale Radiosender dudelt ständig die neue Single von Element of Crime, Lieblingsfarben und Tiere.

Es ist so eins dieser Lieder, die man für sich entdecken muss, wenn man kein langjähriger Fan ist. Aber hat man sich mal die Mühe gemacht, ganz genau hinzuhörn, lässt es einen nicht wieder los. Geht zumindest mir so.

Es erinnert ein wenig an Sunny Afternoon von The Kinks: Eine irre coole Mischung aus schnoddrigem laisser-faire und Poesie.

Langer Rede kurzer Sinn: Am Wochenende habe ich meiner Musiksammlung zu meiner eigenen Überraschung das allererste Lied von Element of Crime hinzugefügt, das obendrein jetzt in Dauerrotation läuft.