Stimme aus Kindertagen

„Guten Abend. Seien Sie mir willkommen – ich bin froh, dass Sie dieses Haus betreten haben.“

Auch nach gut dreißig Jahren läuft mir es mir bei diesem Satz immer noch eiskalt den Rücken hinunter. Die Frau, die diesen Satz spricht, hat eine warme, einladende Stimme – und trotzdem ist da eine latente unterschwellige Bösartigkeit, bei der sich sofort sämtliche Nackenhaare beim Hörer aufstellen.

20150131-1Es ist der erste Auftritt von Marianne Kehlau als Sprecherin der Titelfigur in dem Gruselhörspiel Gräfin Dracula – Tochter des Bösen. Bei vielen Hörspielfans gilt dieses Hörspiel des Kultlabels EUROPA als Marianne Kehlaus Paraderolle.

Und das ist auch richtig so: Als eine der am häufigsten eingesetzten Sprecherinnen bei EUROPA war Marianne Kehlau meist auf die Rollen von Königinnen und gütigen älteren Damen festgelegt, gelegentlich auch als das Opfer von Psychoterror wie in der Folge um den Ameisenmenschen aus der Reihe Die drei Fragezeichen. Neben Kolleginnen wie Katharina Brauren, Ingrid Andrée und Gisela Trowe war sie über Jahrzehnte eine der Stimmen von EUROPA.

Als Synchronschauspielerin war sie die deutsche Stimme von Stars wie Deborah Kerr in Schloss des Schreckens, Ingrid Bergman in Die Herberge zur 6. Glückseligkeit, Geraldine Fitzgerald in der Episode Muttertag der Serie The Golden Girls, Vivien Leigh in Endstation Sehnsucht, Jennifer Jones in Alle Herrlichkeit auf Erden oder Danielle Darrieux in Pläsier, also stets eher ladylike besetzt, was sehr gut zu ihrer präzisen, hanseatisch-damenhaften Sprechweise passte.

In Gräfin Dracula durfte sie jedoch endlich einmal alle Facetten ihres Könnens ausspielen, die sonst weniger abgerufen wurden: Sie lockt, sie flucht, sie säuselt, sie rast, sie wütet, sie triumphiert, sie verführt, sie ist mordlüstern, sie winselt um Gnade. Man hört ihr deutlich an, wieviel Spaß sie dabei hatte, einmal so richtig böse sein zu dürfen.

Kaum jemand hat meine Vorliebe für Gruselhörspiele und die Kunst von Hörspielsprechern so geprägt wie Marianne Kehlau als Gräfin Dracula, und auch unzähligen anderen Hörspielfans hat sie mit ihrer phänomenalen Sprecherleistung spannende heimliche Hörspielsessions mit dem Walkman und vor Spannung angehaltenem Atem unter der Bettdecke – und anschließend eine schlaflose Nacht bereitet. Das ist bis heute so.

Die großartige Vokalschauspielerin, die ihre Stimme so virtuos einsetzen konnte wie Menuhin seine Violine, starb 2002 im Alter von siebenundsiebzig Jahren in in ihrer Heimatstadt Hamburg. Heute wäre ihr 90. Geburtstag gewesen – Anlass genug, an sie zu erinnern.