Überall finden dieser Tage wieder die alljährlichen CSD-Veranstaltungen statt – tohuus in Hamburg geht z. B. an diesem Wochenende auf St. Georg und St. Pauli sowie rund um den Jungfernstieg mit der Gay Pride wieder richtig die Luzie ab. Allen Beteiligten wünsche ich sowohl viel Spaß als auch viel Erfolg dabei, die Themen, die uns beschäftigen, so laut kundzutun, dass sie endlich das so nötige Gehör finden.
Eines der Themen wird sicherlich auch die Kontroverse um sexuelle Aufklärung in der Schule sein, besonders um die Frage, ob über mehr aufgeklärt werden soll als nur die Heterosexualität.
Indirekt hat mich der Blog Liebe im Schatten des Regenbogens auf dieses Thema aufmerksam gemacht, in dem die Bloggerin über den Neuanfang in den Leben aller Beteiligten berichtet, seit ihr Ehemann ausgesprochen hat, selbst homosexuell zu sein. Ich folge diesem wirklich lesenswerten und wunderbar positiv denkenden Blog von fast Anfang an und empfehle ihn gerne weiter.
Zum Thema Aufklärung geht es mir insbesondere um den Artikel Warum bin ich noch da? vom 29. Juli 2015. Dieser dreht sich darum, inwieweit man sich entschließt, sein schwules Leben zu leben. Die Bloggerin kommt zu dem Schluss: „Kein Mensch entschließt sich zur Homosexualität.“ Und: „Ich glaube fest daran, dass kein schwuler Familienvater sich bewusst für die Homosexualität entscheidet!“
DANKE! DANKE! DANKE!
Wenn doch nur alle so weit wären wie du, liebe Frau mit Herz (wir haben schon öfter miteinander geschnackt und duzen uns deswegen)!
Denn sie hat ja so recht. Niemand wacht eines Morgens auf und sagt sich „Ab heute bin ich schwul/lesbisch! Und ich mache mich auf, mein bisheriges Familienleben über Bord zu schmeißen, meinen Platz unter meinen Freunden zu riskieren und vielleicht sogar meinen Job, ja, meine ganze Existenz zu verlieren, indem ich mich einer der meistgehassten und meistverfolgen Menschengruppen der Welt anschließe.“ Das macht wirklich niemand.
N-I-E-M-A-N-D.
Natürlich sind wir von Anfang an schwul, lesbisch, hetero oder was es sonst noch alles gibt und auf uns zutrifft. Schon dieses eine sportlich fitte Samentröpfchen mit Orientierungssinn und Durchsetzungsvermögen hat es festgelegt.
Wir wissen es auch von Anfang an. Doch erst als Erwachsene können wir uns die Dinge erklären, die heute Lappalien sind, uns damals in der Pubertät aber bannig appeldwatsch vorkamen. Ich selber habe mein Coming out gleich mit 18 durchgezogen, doch auch bei mir sind einige Puzzleteile erst mit zunehmender Lebenserfahrung an die richtige Stelle gerutscht. Ich schildere das jetzt mal aus meiner Kind-der-80er-Sicht und weide dabei genüsslich ein paar Klischees aus, weil die einfach wahre Kerne haben und es am einfachsten illustrieren:
Warum haben wir uns bei Falcon Crest über jede Szene gefreut, in welcher der schmucke Lance in knapper Badehose und mit aus dem Brustpelz tropfenden Wasser dem Swimming Pool entstiegen ist, während uns die üppigen Kurven seiner biestigen Gemahlin Melissa völlig kaltgelassen haben? (Dieser Punkt kann durch jede beliebige andere 80er-Soap ersetzt werden.)
Und ehrlich: Wir haben die Sportschau doch nicht zusammen mit unserem alten Herren wegen des Fußballs geschaut… Selten so gelacht. Uns haben im Sommer die Schwimmwettbewerbe der Herren interessiert und im Winter die Berichte über Ringer. Und die Beteuerung vor der Klassenkameraden am Montagmorgen, man habe sich am späten Abend zuvor heimlich vor den Fernseher gepflanzt, um bei Tutti Frutti endlich das System der Länderpunkte zu verstehen oder gar das weibliche Obstballett zu bestaunen, war eine faustdicke Lüge.
Kurzer Blick noch weiter zurück: Gays aus der Generation meiner Eltern haben mir erzählt, dass für sie die ganze Teenagerscharen beschäftigende Frage „Ted Herold oder Peter Kraus“ überhaupt nix damit zu tun hatte, wer von den beiden der bessere Rock ’n‘ Roller war (Fun Fact am Rande: Ich hätte mich sowohl musikalisch als auch optisch für Ted Herold entschieden.), und ihr größter Traum war, dass Doris Day im nächsten Film doch bitte endlich Tony Randall heiraten würde, damit Rock Hudson weiterhin frei war.
Heute sind es Typen wie Alexander Skarsgård (True Blood) oder Nikolaj Coster-Waldau (Game of Thrones). Dasselbe Prinzip, nur die Namen ändern sich.
Alles natürlich sehr einfach und vornehmlich durch visuelle Reize getriggert… aber hey! In gewissen Altersgruppen diskutierst du einfach noch nicht über den homosexuellen Subtext von Thomas Manns Der Tod in Venedig!
Da war also von vornherein was. Wir konnten nur damit nix anfangen. Warum? Ganz einfach: Ein Mangel an Aufklärung. Die ist in meiner Generation generell zu kurz gekommen. Verstohlen wurde gerade mal die reine Technik der Heterosexualität erklärt. Homosexualität, Bisexualität, Intersexualität etc. wurden – wenn überhaupt thematisiert – ohne jegliche Erläuterung mit einem Wort zusammengefasst: Unnormal.
Auch heute noch wachsen viele Jugendliche zutiefst verunsichert heran, weil sie spüren, dass bei ihnen etwas anders ist als bei den meisten Menschen ihrer Umgebung. Warum gucke ich jetzt im Sommer zur Shorts-Zeit lieber auf die behaarten Beine der Jungs in meiner Klasse als auf die knappen Tops der Mädchen? Warum tut es mir so weh, dass mein Kumpel jetzt eine Freundin hat? Warum prickelt es bei den Konzertvideos der Gruppe Hej, Matematik so bei mir in der Leistengegend, wenn Søren Rastedt sich das Oberhemd vom Leib reißt?
Weil sie nirgendwo eine Erklärung finden und oft genug sogar nicht mal jemanden, der willens oder fähig ist, eine Erklärung zu geben, müssen sie sich jahrelang fies quälen. Vor dem Coming out genau so wie mit dem Coming out und manchmal sogar bis an den Punkt, der dafür gesorgt hat, dass sie heute nicht mehr unter uns sind.
Der Mangel an Aufklärung kann also richtig viel Unheil anrichten. Schade, dass man diese einfache Erkenntnis immer wieder unter die Leute bringen muss.
„Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen. Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist“, hat Sir Peter Ustinov einmal gesagt. Recht hat er. Und man kann denjenigen, die verhindern wollen, dass junge Menschen rechtzeitig und umfassend aufgeklärt werden, eigentlich nur ganz schnell den Weg zum nächsten Möbelhaus für die Geisteszelle zeigen.