Nur ein Satz

Die Eltern erschossen und einfach im Dreck verscharrt. Der einzig verbliebene eigene Besitz ist die Kleidung am Leib und ein kleiner Koffer. Der andere Koffer ist in einem Notlager für die Nacht gestohlen worden. Tag und Nacht unterwegs. Zu Fuß. Quer durch Deutschland. Von Wilhelmshaven nach Potsdam und dann bis Hannover. Nicht wissend, ob einem nicht vielleicht doch noch das gleiche Schicksal wie den Eltern blüht. Und dann irgendwann Rettung durch wildfremde Menschen.

Klingt nach dem, was wir heute tagtäglich in den Nachrichten hören, oder? Ist aber meiner Großmutter passiert. 1945. Ist siebzig Jahre her. Auf die gesamte Weltgeschichte betrachtet zeitlich nicht mehr als ein Fliegenschiss. Wie gestern. Gerade erst passiert.

Vergessen hat sie das nie, bis zu ihrem letzten Tag nicht. Die Angst. Die Not. Die Dankbarkeit für die Rettung.

Traurig, dass so viele andere das vergessen haben. Klar, es gibt genügend, die die Zeit um 1945 nicht miterlebt haben. Aber in jeder Familie hat es mindestens einen Menschen gegeben, der eine ähnliche Begebenheit berichten konnte. Vielleicht hat er es nicht getan. Aber es gibt Dokus in jedem erdenklichen Medium. Es ist also bekannt. Ausflüchte zwecklos.

Und was ist mit denen, welche die Jahre vor 1989 erlebt haben? Die Bilder von erschossenen Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze. Die Bilder von den Flüchtlingen in der Prager Botschaft – schiere Verzweiflung, die in unfassbares Erleichterung umschlug, als Hans-Dietrich Genscher jene erlösenden Worte sprach. Die Hilfsbereitschaft für all jene, die von dort willkommen geheißen wurden, wo sie nicht mehr sein wollten. Nicht mehr sein konnten.

Einige scheinen das wirklich komplett vergessen haben. Oder passt „verdrängt“ besser? Aber keine Sorge – wir helfen dabei, euch zu erinnern. Und wir werden wieder für humanitäre Hilfe sorgen – da könnt ihr, die ihr sowieso in der Minderheit seid, euch auf euren ohnehin leeren Kopf stellen und mit den Beinen Kartoffelbrei schreien. Ihr kommt damit nicht durch.

Das Foto eines erschöpften Vaters, der es kaum fassen kann, nach einer Höllenreise endlich sicheren Boden unter den Füßen zu haben, ist um die Welt gegangen.

In einem Video taucht ein kleiner Junge auf, der auf die Frage „Sind bei euch im Kindergarten auch Flüchtlinge?“ antwortet: „Nein, da sind nur Kinder.“

Anja Reschke hat in den Tagesthemen wieder einmal einen grandiosen Kommentar gesprochen, der ihren Worten zum Gedenken an Auschwitz in nichts nachsteht.

Ein Bild bei Facebook zeigt, wie man in Hamburg die Sache sieht: „Was sagen Sie eigentlich zu den vielen Flüchtlingen hier?“ – „Tscha, ich sage Moin und nicke freundlich – wie zu jedem anderen auch. Man will ja nicht aufdringlich sein.“

Mitbürger stellen in Eigeninitiative großartige Projekte auf die Beine, um die dramatische Lage in den Flüchtlingsunterkünften zu verbessern.

Anna Schmidt aus Berlin hat einen wundervollen Blogpost geschrieben, der unbedingt gelesen werden sollte.

Überall werden so viele Zeichen gegen populistische Hetze und erst recht gegen Straftraten gegenüber Flüchtlingen und für die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen gesetzt, die zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in diesem Land nicht gewillt ist, Kofi Annans Warnung „Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit“ wahr werden zu lassen.

Jeder hebt da auf seine eigene Weise die Stimme. Manchen fehlen die Worte für lange Texte. Aber wo steht geschrieben, dass man immer ohne Punkt und Komma sabbeln muss? Manchmal braucht es nur einen Satz, um sich selbst unmissverständlich zu positionieren. Hier ist einer der meinen:

„Flüchtlinge sind willkommen.“