Am Ziel

Auf manche Ereignisse kann man nur mit einem gewissen Maß an Erstaunen blicken, weil sie etwas ganz anderes gebracht haben als eigentlich vorgesehen. Ein regelrechtes Zufallsbuch ist der Rummelpott geworden, denn der ursprüngliche Plan hatte – wie bereits gestern erzählt – lediglich die Erprobung einer neuen Erzähltechnik vorgesehen.

Insgesamt war ich mit der Urfassung der ersten Erzählung Das Nebelschiff zufrieden, doch je öfter ich die Story las, desto mehr störte mich die Zeit, in der ich sie angesiedelt hatte, etwa die späten 1970er/frühen 1980er Jahre. Doch Schauergeschichten waren für mich eigentlich immer mit einer viel weiter zurückliegenderen Zeit verbunden – in der Zeit der „Goldenen Ära der Geistergeschichte“ zwischen 1850 und 1920 musste es mindestens liegen. Eine Zeit also, die weniger technisiert war und deren Menschen über viel weniger Aufklärung verfügten, als es heute der Fall ist. Als dichte Nebelschwaden eine noch viel größere Gefahr für die Schifffahrt darstellten als heute, weil es noch nicht auf jedem Schiff technische Einrichtungen wie Radar gab. Als die Menschen noch viel mehr als heute daran glaubten, dass es wirklich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unser Schulweisheit sich träumen lässt.

Ich arbeitete Das Nebelschiff daher noch einmal gründlich um, bis ich die Sache „rund“ fand. Bis dahin hatte ich soviel Spaß an dem Genre gefunden, dem ich bisher nur als Leser von Autoren wie H. D. Everett, M. R. James, Edith Nesbit oder Elizabeth Gaskell gefrönt hatte, dass ich gleich mit der nächsten Story begann.

Mich reizte vor allem das Spiel mit wiederkehrenden Grundelementen, die nahezu alle Autoren der o. g. Epoche auf ihre Weise variiert haben. Ich wollte ihren Regeln genauso folgen wie ich sie auch in der ein oder anderen Story auf den Kopf stellen wollte. Das Ganze mit meiner Liebe zum Norden Deutschlands zu verbinden, der an vielen Ecken ähnlich atmosphärische Settings bietet wie die Moore von Yorkshire oder die Klippen von Cornwall, erhöhte den Reiz ebenso wie die Suche nach dem richtigen Ton für jede einzelne Erzählung.

Für einen Roman wie Frag doch das Vanilleeis, der in den 2000er Jahren spielt, kann ich aus meinem täglichen Leben schöpfen. Eine Geschichte, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert angesiedelt ist, erfordert hingegen ein ganz anderes Vokabular. Viele Worte und Phrasen, die wir heute kennen, gab es damals noch gar nicht, im Gegensatz dazu sind Elemente des damaligen Wortschatzes heute ebenso verschwunden wie auch einige Berufsstände, Brauchtümer und Alltagsgegenstände. Es weiß kaum noch jemand, was der Betreiber einer Entenkoje genau zu tun hatte. Und selbst im Norden ist nicht mehr jedem klar, was der Rummelpott, der dem Buch seinen Namen gegeben hat, überhaupt ist. Ein wahrer Abenteuerspielplatz tat sich da auf, und ich tobte ausgiebig auf ihm.

Last but not least waren da die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit. Im Dorf an der Küste hatte der Gendarm das Sagen – und die Fischer machten bisweilen doch, was sie wollten. In der Kaufmannsvilla an der Elbchausse herrsche eine strikte Haus am Eaton Place-Trennung zwischen den Herrschaften und dem Personal. Es gab klare Vorstellungen, was moralisch schicklich war und was nicht. Mir war klar, dass einige meiner bisherigen Leser das schwule Element vermissen würden. Doch würden sie wirklich darauf verzichten müssen? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Bei der Recherche tauchte ich in zeitgenössische Fiktion ebenso ein wie in Tatsachenberichte und fand tatsächlich eine Möglichkeit, in eine meiner der Erzählungen einen schwulen Plottwist einzubauen. In welcher? Nun, das müssen die Leser schon selbst herausfinden.

Spätestens als ich an der vierten Erzählung schrieb, beschlich mich eine leise Ahnung, dass mein nächstes Buch ein ganz anderes werden würde als sonst.

Ist es ja dann auch geworden, und es hat riesigen Spaß gemacht, es zu schreiben.

Seit heute nun ist Rummelpott auf dem Buchmarkt erhältlich – nach der elektronischen Ausgabe nun auch als auf Papier gedrucktes Taschenbuch.

Passend zum Herbst mit seinen Nebelschwaden und den trüben Lichtverhältnissen, die der eigenen Wahrnehmung den ein oder anderen Streich spielen. Oder war dieses merkwürdige Erlebnis, das man gerade auf dem einsamen Leinpfad am Flussufer hatte, doch pure Wirklichkeit? Ganz genau werden wir es niemals wissen…