Der Feind zeigte erst nach dem freudig angenommenen Heiratsantrag sein wahres Gesicht, denn er ging geschickt vor. Er war schon immer da, doch wie ein Schläfer wartete er auf den richtigen Zeitpunkt, um zuzuschlagen.
Der Feind war rücksichtslos. Denn als er dann wirklich zuschlug, geschah es mit aller Macht.
Seit November 2000 gehört zu meinem Familienleben ein unwillkommener Begleiter: Der Ausbruch einer chronischen Erbkrankheit bei meinem Mann. Welche es ist, tut nichts zur Sache, denn es geht hier nur um das, was sie mit nahezu allen Krankheiten mit Pflegebedarf gemein hat – sie reißt nicht nur den Patienten in ihre Klauen, sondern auch die nächsten Angehörigen.
Patient kommt vom lateinischen patiens. Das heißt sowohl geduldig als auch ertragend. Beides Tugenden, die nicht nur der Betroffene mitbringen sollte – der Angehörige braucht sie mindestens genau so dringend, manchmal sogar noch mehr. Tut man’s nicht, lernt man es auf die harte Tour, wenn der Feind dann irgendwann erstmals aus der Deckung hervorschießt, um es danach immer wieder zu tun.
Fünfzehn Jahre nun bin ich pflegender Angehöriger, und ich habe die Schnauze gestrichen voll. Nein, nicht von meinem Mann. Zwischen uns und an unserer Zuneigung hat sich nichts geändert. Das ist alles sogar mit den Jahren noch stärker geworden, wobei ich mir bewusst bin, dass das nicht der Regel entspricht. Es gibt genügend Beziehungen, die unter dem Druck von Krankheit auseinanderbrechen.
Langsam habe ich nur keine Geduld mehr mit jenen Zeitgenossen, die in einem pflegenden Angehörigen nur so etwas sehen wie eine in Ehren ergraute viktorianische Nurse im Old Manor House, deren Leben aus nichts anderem besteht, als Kopfkissen aufzuschütteln und einem gehauchten „Ach, Schwester Wigginbotham, bringen Sie mir doch bitte eine Tasse Tee“ Folge zu leisten. Dass besagte Zeitgenossen diese Thesen auch noch artikulieren, setzt dem ganzen die Krone auf.
Haben diese Menschen sich eigentlich je mit dem Gedanken beschäftigt, dass die Kaffeestunde mit ihnen, in der sie den Kranken und seinen pflegenden Angehörigen wie jedes andere strunznormale Ehepaar erleben, nur einen kurzen Ausschnitt bieten, wie sich das Leben mit so einer Krankheit gestaltet?
Ihre Aussagen lassen meist nur den Schluss zu, dass sie lediglich das hier sehen: Ihre eigene Enttäuschung, weil der pflegende Angehörige und/oder der Patient entweder von vornherein nicht zu einem spontanen Grillabend kommen können oder schon länger abgemachte Treffen im letzten Moment absagen, weil auf eine Pflegesituation reagiert werden muss. Sie sehen nur, dass man nicht sofort auf Facebook-Posts, eMail, Anrufe, WhatsApp, whatever reagiert, auch mal den Geburtstag oder den Weihnachtsgruß vergisst – das Warum bleibt ohne Hinterfragung. Sie sehen ihr Unverständnis, warum der pflegende Angehörige sich einmal im Jahr eine einzige komplette Auszeit von gerade mal vier Tagen nimmt und ganz alleine verreist. Sie sehen das betroffene Paar gemeinsam verreisen und überseht dabei geflissentlich, dass der Pflegebedarf gar nicht daran denkt, zuhause zu bleiben, sondern mitreist. Sie sehen ihr ebenso großes Unverständnis, wenn der pflegende Angehörige den kompletten Haushalt alleine schmeißt, obwohl „du doch gar nicht alleine lebst“.
Das hier hingegen sehen sie nicht: Eine Krankheit, die nie Routine wird – du weißt nie, wann die durchaus vorkommenden ruhigen Zeiten umschlagen in den nächsten Schub. Sie sehen nicht das um drei Uhr nachts aus dem Schlaf gerissen werden um Bettwäsche zu waschen, neue aufzuziehen und eine kleine Putzorgie durchzuziehen, wenn ein neues Medikament des Patienten mal wieder Durchfall als Nebenwirkung mitgebracht und er es nicht rechtzeitig zur Toilette geschafft hat. Die Zeiten, in denen du nur mit einer Körperhälfte schläfst, weil gewisse Schübe nur nachts auftreten und du ganz gewiss aufstehen und helfen musst, damit dein(e) Partner(in) dir nicht erstickt. Tägliche Wundversorgung und eigene Kotzreizunterdrückung über Wochen, wenn ein anderes Medikament zu einem eklig stinkenden Eiter absondernden Abszess in Anusnähe geführt hat.
Das Obige sind die Dinge, die Tatkraft erfordern – dazu gesellen sich die eher auf die Seele abzielenden Aufgaben: Das Fels in der Brandung sein. Eiserne Nerven behalten, wenn dein zu pflegender Angehöriger psychisch krank ist und ihm mit gesunder Logik nicht beizukommen ist. Mut machen, obwohl man selber gerade nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Trost spenden, wenn der Patient nach dem oben beschriebenen Malheur geduscht in der Küche sitzt und weint, weil er sich so schämt, dass die engste Familie hinter ihm die wirkliche und wahrhaftige Scheiße aufwischen muss.*
Das Achten auf sich selbst – ohne Schuldgefühle zu erlernen und durchzuhalten, dass es vollkommen legitim ist, sich selbst nicht zu verlieren und sich Auszeiten zur Erholung zu verschaffen. Es ist nicht nur okay, sondern für die eigene Gesundheit zwingend erforderlich, zum Sport zu gehen, sich mit Freunden zum Kaffe zu treffen, auch mal alleine wegzufahren. Trotzdem musst du dir dann oft genug noch Vorwürfe anhören: „Du kannst deinen armen Mann doch nicht drei Tage alleine lassen“ – „Würdest du mich dann vertreten?“ – „Äh, nee, keine Zeit.“
Obendrauf: Wenn Einfalt und Pedanterie zusammentreffen, hast du es mit Bürokratie zu tun. Das Aushalten der zermürbenden Dauer einer Klage vor dem Sozialgericht, wenn mal wieder etwas von den Kostenträgern nicht genehmigt wurde obwohl sie genau wissen, dass die Gesetzesparagraphen gegen sie sprechen. Die Belastung für das ganz private „Finanzministerium“ wegen der Dinge, die tatsächlich selbst bezahlt werden müssen. Das Kämpfen um wichtige Informationen, die manche Mitarbeiter einiger Kostenträger erst nach der Zauberformel „Und jetzt hätte ich gerne Ihren Teamleiter gesprochen“ rausrücken…
Das alles macht Pflege zum 24-Stunden-Job. Zugegeben, sie können das oft auch gar nicht sehen. Sie sind ja nicht 24/7 bei dem betroffenen Paar. Als pflegender Angehöriger mag man es vielen von ihnen aber auch nicht erzählen.
Nicht aus Scham.
Nicht aus falscher Eitelkeit.
Sondern einfach, weil es die meisten aus Desinteresse ohnehin gar nicht erst zuhören würden. Krankheit schickt sich nicht, Krankheit ist fies, Krankheit ist bäh. Also guckt man weg. Und wenn nicht, schaut man sich nur den Patienten an (wenn man sich von dem nicht auch noch zurückzieht, weil man sich einredet, seine Erb[!!!]krankheit sei ansteckend). „Der arme Fritz“ hier, „die arme Lieselore“ da, Händchen tätscheln, Knuddler, „ich bewundere dich, wie tapfer du das erträgst“ überall.
Ist ja auch völlig richtig – als der Hauptbetroffene kann er jeden Zuspruch gebrauchen, den er kriegen kann.
Doch wir Angehörigen? Wir sind das Blatt Salat neben dem Wiener Schnitzel: Liegt auch auf dem Teller, gehört aber nicht wirklich zur Mahlzeit und kann getrost übersehen werden. Nur der Patient ist von der Krankheit betroffen. Alles gut mit dem Angehörigen.
Wenn man es als pflegender Angehöriger dann aber doch mal wagt, seine Befindlichkeit zu schildern, wird das alles mit einer nonchalanten Handbewegung weggelächelt. „Du bist doch noch jung und kräftig, das machst du doch mit links.“
Auch das habe ich schon erlebt: Als mein Mann wieder einmal längere Zeit im Krankenhaus war, schuf das in der Tat ein wenig mehr Luft zuhause und die Gelegenheit, um Liegengebliebenes aufzuholen: Fenster putzen, Rumpelkammer aufräumen, diverse Kleinigkeiten reparieren. Doch während der ersten Woche habe ich mir zunächst Entspannung pur gegönnt. Als ich das erwähnte, sagte ein Bekannter nur zu mir: „So wie du pflegst, möchte ich mal Urlaub haben.“
Ich bin fast 43 Jahre alt, zum Glück trotz Pflegeaufgabe kerngesund. Noch. (Ernsthaft krank zu werden ist für einen pflegenden Angehörigen ohnehin nicht drin. Dann bricht wirklich alles zusammen.) Mit etwas Glück habe ich Pi mal Daumen weitere 40 Jahre vor mir. Das ist mir aber viel zu wenig verbleibende Zeit, um sie von solchem Bullshit auffressen zu lassen. Darum habe ich diesem – nun ehemaligen – Bekannten gezeigt, wie schön unsere Wohnungstür von draußen aussieht.
Das Zitat eines deutschen Kabarettisten ist bekannt: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die…
Pflegen lässt altern. Und wie. Fragt mal einen Krankenpfleger im Hospital eures Vertrauens. Der wird euch schon sagen, dass die Mühe einer solchen Aufgabe altern lässt, bisweilen sogar krank macht. Und das sind ausgebildete Profis – die ihren mal selbst aus Leidenschaft gewählten Beruf oft nicht bis zur Rente ausüben können.
Wir Angehörigen werden ungelernt in das kalte Wasser geschmissen und müssen mit der Situation nicht nur umgehen, wir müssen uns das meiste auch noch selber beibringen.
Viele Außenstehende lächeln das Ganze auch deswegen weg, weil sie da etwas nicht sehen wollen, das auch Teil ihres Lebens sein könnte. Was nicht sein darf, kann nicht sein…
Schöner Traum. Sollen sie die Augen weiter verschließen. Verdrängen, was auch ihnen mal nicht nur blühen könnte, sondern garantiert blühen wird – wenn nicht durch eine schon in jungen Jahren ausgebrochene Krankheit, dann spätestens mit Verschlimmerung der ganz normalen Alterszipperlein bei ihrem Partner, männlich wie weiblich, oder gar bei den eigenen Eltern. Viel Spaß beim Aufwachen…
Ich verlange keine Dankbarkeit für die Pflegearbeit, auch keine Lobhudeleien. Die erwarte ich nicht mal von meinem Mann. Ich tue einfach das, was ich als meinen Partner liebender Mann für selbstverständlich halte, und ich tue es gerne.
Aber eins verlange ich sehr wohl: Respekt für die Arbeit, die ich leiste. Das verlange ich übrigens für alle, die mit mir im selben Boot sitzen.
Wir pflegenden Angehörigen untereinander – wir wissen, was wir leisten. Der Respekt der Insider ist uns gewiss. Auch unsere engsten Freunde sehen, was so eine Krankheit anrichtet, und unterstützen uns nach Leibeskräften mit dem, was sie selbst aufbringen können. Dafür lieben wir euch und dafür habt ihr auf immer einen Platz in unseren Herzen.
Was wir pflegenden Angehörigen hingegen wirklich mal zur inneren Stärkung brauchen, ist ein ganz allgemeines Interesse an der Sache von weiter außen Stehenden. Fragt nach. Hört hin und lauft nicht weg, wenn auch die unappetitlichen Seiten der Pflege zur Sprache kommen. „Du pflegst deinen Mann? Wie geht das? Was musst du da genau machen? Magst du mir davon erzählen?“ – mehr als diese kleine Geste muss es gar nicht sein. Sie ist aber mehr wert als jede Medaille bei irgendeinem obskuren Neujahrsempfang.
Das sind die Gedanken, die mir jetzt so kurz vor Weihnachten durch den Kopf gehen. Aus aktuellem Anlass. Mein Mann ist nämlich gerade wieder einmal im Krankenhaus. Seit vier Wochen schon, Ende noch offen. Auch am so kurz bevorstehenden Heiligabend wird er im Krankenhaus sein. Mittags werde ich ihn für einen genehmigten Besuch nach Hause holen und abends, während in unserem Viertel sowie dem Rest der Stadt drumherum die Familien in ganzen Clans am heimischen Esstisch sitzen, ihr Weihnachtsmenü von dem Porzellan „für gut“ essen, dabei den selbst geschmückten Weihnachtsbaum lächelnd betrachten und später zur sorgsam gehüteten Weihnachten mit Cindy & Bert-Platte von Uroma selig ihre Geschenke austauschen, werde ich ihn wieder wegbringen. Es wird ein kurzes Vergnügen sein, aber Hauptsache, wir sind Weihnachten wenigstens überhaupt für begrenzte Zeit in unserem kleinen Nest zusammen gewesen.
Ich beschwere mich nicht. Ich tu das alles gerne und stehe dabei mit beiden Beinen fest im Leben – wirklich. Ehrlich. Ohne Flachs. Kein Scheiß. Es geht mir nur darum zu zeigen, was für uns Angehörige alles mit dem Wort Pflege verbunden ist. Mein Weihnachtswunsch in Verbindung damit ist, dass dies endlich mehr Respekt und Akzeptanz findet.
Allen Freunden und Lesern des Wortgepüttscher ein riesengroßes Danke schön! für das Lesen, Folgen und mitgestalten über die Kommentare in diesem Jahr und Euch ein ebenso frohes wie friedliches Weihnachtsfest. Und da wir uns erst am 4. Januar 2016 mit neuen Texten wiederlesen werden, an dieser Stelle auch die besten Wünsche für einen gelungenen Altjahrsabend und einen guten Rusch ins neue Jahr, das hoffentlich alles Liebe und Gute und vor allem Gesundheit mit sich bringt.
Holt jo fuchtich!**
* Der Vollständigkeit halber und um Missverständnissen vorzubeugen: Die genannten Begebenheiten stammen nicht ausschließlich aus meinem Erleben. Um jedoch verdeutlichen zu können, wie groß das Spektrum ist, habe ich neben eigenen auch aus Pflegesituationen zitiert, die mir von anderen pflegenden Angehörigen geschildert wurden, und ich danke von Herzen für die Erlaubnis, dies tun zu dürfen.
** Plattdeutsch: Haltet die Ohren steif!