Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Cilly Aussem – Bertel Thorvaldsen – Jan Kiepura – Deichgraf – Christian Morgenstern…

Die Fernzüge auf dem deutschen Schienennetz tragen nicht nur Nummern, sondern auch Namen. Meist von Personen und Gegenden, manchmal auch von Dingen wie dem Donauwalzer. Meiner heute Morgen trug die Nummer IC 2314 und hörte auf den schönen Namen Westerland. Das war auch seine Endstation, ich bin allerdings schon früher ausgestiegen. In Hamburg-Hauptbahnhof.

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Meine Komfort-Nr. 1 bei Zugreisen: Der IC3 (auch „Gumminæser“ = „Gumminase“ genannt) der Danske Statsbaner. Hier in Puttgarden zu sehen

Der Westerland ist mein Lieblingszug auf der Strecke nach Hamburg. Bei seiner Abfahrt aus dem Pott um 6:25 Uhr war er schon über eine Stunde unterwegs, denn er hat seine Reise an die Nordseeküste in Köln begonnen, und obwohl er durch das dichtbesiedelte Ruhrgebiet muss, ist er noch nicht so voll wie etwa die Züge, die schon in Frankfurt am Main oder sogar in Basel beginnen. Wobei letztere mit SBB-Waggons gefahren werden, die ich deutlich bequemer finde als die der DB. In meiner persönlichen Komfort-Rangfolge liegen DB-Züge auf Platz 3 und SBB-Züge auf Platz 2. Platz 1 belegen die IC3-Triebwagen der Danske Statsbaner.

Auf dem Abschnitt von Dortmund nach Hamburg hält IC 2314 nur vier Mal: In Münster, Osnabrück, Bremen und Hamburg-Harburg. Über den diesen letzten Halt mokierte sich der Herr im Anzug hinter mir in der 1. Klasse (man muss sich auch mal was gönnen). Ich überlegte kurz, ob ich ihm erklären sollte, dass dieser Halt notwendig ist, weil es ein kleines bisschen Luft schafft für alle Züge, die sich auch gerade jetzt aus Lüneburg, Berlin, Lübeck, Kiel, Flensburg, Sylt und wie wir aus Bremen kommend in diesen engen Flaschenhalts quetschen wollen, der sich Hamburg Hauptbahnhof nennt. Aber ich habe es dann doch gelassen. Es hätte ihn wahrscheinlich eh nicht interessiert.

Lieber habe ich die letzten zwölf Minuten dieser Fahrt genossen, sie sind ganz großes Kino. Der Zug rollt langsam aus dem Bahnhof, als wäre seine Fahrt schon vorüber und er muss nur noch zum Abstellgleis rüber. Dann gewinnt er an Fahrt und dreht noch einmal richtig auf – man könnte meinen, es lägen noch hunderte Kilometer vor ihm. Er rauscht über die Süderelbbrücken. Man erhascht einen ersten Blick auf den Strom und die Hafenanlagen von Harburg. Dann fliegt er förmlich über die Elbinsel Wilhelmsburg, vorbei an einem lebendigen Panorama aus Kleingärten, Wohngegenden, Güterbahnhof, Gewerbegebieten. Kurz vor der kleinen Elbinsel Veddel wird er wieder langsamer. Es folgt die weit ausholende Linkskurve über die Freihafen-Elbbrücke, sie offenbart das ganze Panorama des umtriebigen Hamburger Hafens. Zum Schluss wird der Zug wieder langsamer und rollt an den Deichtorhallen vorbei in den Hauptbahnhof. Was für ein Finale einer fast drei Stunden langen Reise.

Die Türen öffnen sich, ich steige aus und atme zum ersten Mal in diesem Jahr Hamburger Luft. Naja, eigentlich noch keine richtige Hamburger Luft, sondern die eigentümliche Luft des Hamburger Hauptbahnhofes: Die Nähe zu Alster und Elbe ist nur so vage wahrnehmbar, dass es auch Einbildung sein könnte. Viel deutlicher ist das Aromagemisch aus den Abgasen der Dieselloks, den Ausdünstungen der Lokmotoren generell, gepaart mit den Fast Food-Düften, die von den Stegen mit den kleinen Fresstempeln am Nord- und Südende der Bahnsteighalle und dem muffigen Geruch nach Tauben. An besonders warmen Tagen riecht es aus den Mülleimern auf den Bahnsteigen nach gekochter Limonade, erkalteter Pommes-Currywurst oder langsam vertrocknendem Bier. Wer wissen möchte, was ein Treibhauseffekt ist, kann ihn hier dank der gläsern überdachten Bahnhofshalle ganz genau studieren.

Es wird oft behauptet, dass es auf jedem Bahnhof immer und überall zieht. In Hamburg stimmt das nicht. Die Luft steht, wabert allenfalls, aber es zieht nicht.

Ist man dann mit der Rolltreppe vom Bahnsteig nach oben zum Nordsteg gefahren, gelangt man in die große Wandelhalle. Hier riecht es weniger nach Eisenbahn, doch zu den Gerüchen der Gastrotempel gesellt sich nun die Kakophonie (ich weiß, das gehört in die Welt der Geräusche, aber das olfaktorische Pendant will mir gerade nicht einfallen) aus Teuer- und Billigparfums, den natürlichen Odeurs der Passanten und den Ausdünstungen der reichlich vorhandenen Viel-Alkoholkonsumenten. In der Nähe der Haupteingänge weht Zigarettenqualm von draußen in die Halle. Die Dudelmusik unter dem Vordach der St.-Georg-Seite, die Herumlungerer abhalten soll, sich länger niederzulassen, hört man erst, wenn man draußen ist.

Drinnen ist es voll und laut. Menschen hasten hin und her, das Stimmgewirr ist babylonisch, ihre Optik ein Querschnitt durch die Schichten menschlichen Lebens: Anzugträger, Punks, Halbwüchsige in schlecht sitzenden Baggy Pants, Seniorinnen in ihrer unvermeidlichen beigen Windjacke zu cremeweißen orthopädischen Naturtretern Marke latsch-latsch, Nonnen, Touristen, Geschäftsleute, Stricher, Polizei, Reinigungskräfte, Bahnmitarbeiter.

Seit Jahren schon klebt der Hauptbahnhof an seiner Kapazitätsgrenze. Kein Platz, um mehr Züge abzufertigen – aber auch nicht, um noch mehr als die jetzt schon rein und raus eilenden 500.000 Passagiere täglich zu verkraften. Es ist der am meisten frequentierte Bahnhof Deutschlands.

Ein Ausbau ist schwierig, nahezu unmöglich: Der Hauptbahnhof liegt in der Schneise zwischen Hamburg-Altstadt mit der Einkaufsmeile im Westen und St. Georg im Osten, in der vor Urzeiten die Wasser des Stadtgrabens geflossen sind, die Gleise ziehen sich von Norden nach Süden. Nach oben eine abenteuerliche zweite Ebene einzuziehen geht wegen des denkmalgeschützten Hallendachs nicht, nach unten ist es wegen der drei Tunnel für die U-Bahn nicht drin.

Eigentlich ist es purer Stress, sich im Hauptbahnhof aufzuhalten. Besonders, wenn man sich von hier aus auf den Rückweg macht: Meist bin ich eine halbe bis dreiviertel Stunde vor Abfahrt meines Zuges im Hauptbahnhof. Letzten Reiseproviant besorgen, eventuell noch etwas zu lesen. Nochmal die gepflegten Toiletten aufsuchen.

Die letzten fünf bis zehn Minuten sind dann eine echte Qual: Der Bahnsteig füllt sich, die meisten Reisenden sind nie wirklich vorbereitet. Niemand macht vom Wagenstandanzeiger Gebrauch, folglich hasten viele auf der Suche nach dem vermutlichen Standort ihres Waggons wie orientierungslose Hühner hin und her. Obwohl an den Zugzielanzeigern der Nachtzug nach Zürich angeschlagen ist, müssen die armen DB-Mitarbeiter sich mit der Frage „Ist das der Regionalzug nach Uelzen?“ quälen lassen. Ich bewundere sie für ihre Geduld.

Wie gesagt, purer Stress. Darum habe ich bereits vor einigen Monaten bei der Buchung meiner diesjährigen Hamburg-Reise entschieden, die Rückfahrt von Hamburg-Altona aus anzutreten – dort wird der Zug zeitig bereitgestellt, was entspanntes Einsteigen ermöglicht, und dank der Infrastruktur bekomme ich meinen Reiseproviant auch dort.

Aber als ich heute Morgen in Hamburg-Hauptbahnhof aus dem Intercity 2314 ausgestiegen bin, war mir sofort klar: Nächstes Jahr findet auch die Rückfahrt wieder ab hier statt…


PS: Es liegt durchaus im Bereich des Hochwahrscheinlichen, dass dieser Blogeintrag noch mehr Tippfehler als die sonst übliche Menge beinhaltet. Der Text wurde nämlich nicht zuhause mit dem außerordentlichen Komfort des gewohnten Laptop verfasst, sondern von mir im Hotelzimmer mühsam in ein für solche lange Episteln denkbar ungeeignetes Smartphone gehackt. Es wird daher um Nachsicht gebeten.

PPS: Bei einem späteren Edit zuhause wurden Tippfehler beseitigt und Illustrationen eingefügt. Der Text an sich ist unverändert.