Eigentlich war es nur eine kleine Anekdote aus dem Familienleben gemischt mit ein bisschen Trivia, garniert mit ein paar eher liebevollen Spötteleien über Musik, die zur Jugendzeit meiner Mutter populär war. Aber es hat sich einiges verändert seit dem letzten Beitrag hier, vor allem ausgelöst durch die Antwort auf einen Kommentar. Da ich diese selbst geschrieben habe, kann ich sie hier problemlos übernehmen und noch ein wenig ausbauen.
Die Platten mit den „Liedern von Fernweh und Sehnsucht“ habe ich hauptsächlich bei meinen Großeltern aufgeschnappt, und ich fand sie – und finde sie teilweise bis heute! – wirklich toll. Das gilt auch für Songs aus anderen Genres wie Heidi Brühls Das kann mir keiner nehmen (ein Cover von Conny Vandenbos‘ Ik ben gelukkig zonder jou) oder Caterina Valentes Im Kabarett der Illusionen.
Das alles gar nicht mal so sehr wegen der Texte, obwohl diese in ihrer Einfachheit manchmal deutlich eher ein Ziel treffen als diese nach „Wir haben eine Message, wenn auch nur für die Leute, die ihre Lebenserfahrung aus den Illustrierten an der Supermarktkasse beziehen“ klingenden Lieder, die heute die Charts weichspülen.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Sie waren musikalisch einfach großartig gemacht. Üppige und bis ins Kleinste ausgefeilte Arrangements, etwa. Dazu fantastische Chöre mit von ihren Leitern perfekt ausgewählten und aufeinander abgestimmten Stimmen. Ans Plevier, Gretel Kästel und Hanna Dölitsch sowie Ralf Paulsen als Kernmitglieder des Botho-Lucas-Chor sind für mich das, was in den USA The Jordanaires für die Country-Aufnahmen von Connie Francis, Elvis Presley, Brenda Lee und Patsy Cline waren: Die Unterstützung für den Hauptinterpreten, welche der Aufnahme den letzten Schliff gibt. Auf nahezu allen großen deutschen Electrola-/Columbia-/Odeon-Aufnahmen des deutschen EMI-Ablegers sind sie zu hören, u. a. Santo Domingo von Wanda Jackson, Wir können uns nur Briefe schreiben von Greetje Kauffeld, Ich schick‘ dir eine Prise Sand von Lale Andersen oder Topkapi von Conny Froboess. Aber auch andere Chöre, wie die der Orchesterleiter Werner Scharfenberger und Johannes Fehring von Polydor, Henry Mayer auf RCA oder Charles Nowa bei Ariola haben phantastische Arbeit geleistet.
Dazu kamen die Interpreten an sich mit ihren großartigen Stimmen. Einfach mal die Augen zumachen und Margot Eskens bei Ob in Bombay, ob in Rio zuhören. Den Text gedanklich ausblenden und nur auf die Stimme konzentrieren: Gepflegt, sicher in der Intonation, klar in der Aussprache, authentisch in den Emotionen – und ganz bestimmt nicht elektronisch nachbearbeitet. Etwas, das man heute immer vergeblicher sucht.
Ganz großartig ist auch Connie Francis bei der im November 1965 aufgenommenen Version von Blaue Nacht am Hafen (sie hat es im Juni 1966 mit dem gleichen Playback nochmal aufgenommen, aber diese Version ist nicht annähernd so toll). Oder Lolita mit Seemann, deine Heimat ist das Meer – das Lied ist nicht umsonst bis auf Platz 5 in den Charts der USA (!!!) geklettert. So simpel die Texte sein mögen – ich nehme den genannten Damen jedes Wort ab, weil sie ihr Können mit Gefühl verbanden. Bei einer Rihanna, einer Madonna oder einem James Blunt höre ich allenfalls die Arbeit eines Tontechnikers. Bei Namen wie Joris, Philip Dittberner, Silbermond oder Mark Forster kommen noch komplettes Nullverständnis der Texte vor lauter Genuschel dazu.
Wenn man dann noch die damalige Aufnahmetechnik bedenkt – jedes Lied musste beim kleinsten Fehler wieder ganz von vorne aufgenommen werden statt wie heute aus dem diversen vorliegenden Material einfach was zusammenzuschneiden… Und das galt für das ganze Team – Sänger, Produzenten, Tontechniker und natürlich das manchmal bis zu 30 Personen starke Orchester. Die haben mit Herzblut und Leidenschaft gemeinsam und gleichzeitig Musik gemacht – nicht der eine montags im einen, der andere donnerstags im anderen Studio, und irgendwann wurden dreißig vom Paketdienst gebrachte Tonbänder zu einem abgemischt…
Ich glaube, das ist der größte Reiz, den die Musik der 50er und 60er für mich hat, ganz gleich, ob Schlager, Flower Power, R & B, Soul, Motown und, und, und: Es war pures Handwerk, vor dem ich echten Respekt habe. Das Zelebrieren dieser Musik mit dem Auflegen einer Schallplatte statt nur Knöpfchen am mp3-Player zu drücken ist das i-Tüpfelchen.
Musik ist technisch geworden, hat seine Seele verloren. Wie oft konsumieren wir sie nur statt sie wirklich zu hören, sie wahrzunehmen? Ein Knopf am mp3-Player gedrückt, ein Ordner auf dem PC angeklickt und das Gedudel geht los. Erlebe ich selbst nicht anders. Wie oft habe ich mich durch den Music Player auf meinem Handy „gewischt“ und bei den zig gelisteten Alben keins gefunden, das ich wirklich hören wollte. Ein Album ist nur noch auf ein Bild und eine Liste von Worten reduziert.
Wo kommt der Begriff Album für eine Sammlung von mehr als vier Liedern eigentlich her? Aus der Zeit, als es nur Schellackplatten von 78 rpm („Bitte vergessen Sie nicht, zwischen der A- und der B-Seite die Nadeln Ihres Grammophons zu wechseln!“) und später Vinylsingles mit 45 rpm mit genau zwei Liedern gab: Eins auf der A-Seite, eins auf der B-Seite. Um gewisse Dinge gebündelt verkaufen zu können, etwa die acht bis zwölf Songs aus einem Filmmusical oder die kompletten Stücke einer klassischen Komposition, haben die Plattenfirmen begonnen, mehrere Papierhüllen für einzelne Schallplatten zwischen zwei festeren Pappdeckeln wie zu einem Buch zusammenzuschnüren und die Platten so als Album zu verkaufen.
Mit der Erfindung der 33 rpm Langspielplatte fanden je nach Länge dann bis zu sechzehn Lieder auf den beiden Seiten einer einzigen Platte Raum, aber es gab immer noch eine schick bedruckte Papphülle. Später wurde das ganze wieder etwas kleiner und kam als Tonbandcassette und noch später als CD daher. Aber es gab wenigstens immer noch was zum Anfassen.
Das „zum Anfassen“ war schick und unversehrt, wenn der Musikfreund es aus dem Laden nach Hause brachte. Doch mit den Jahren erzählte es genau so Geschichten wie ein Buch, in dem sich Eselsohren angesammelt hatten: Der Rotweinfleck auf dem Cover von Petula Clarks Cara felicita‘ war ein Überbleibsel der Kissenschlacht, die im ersten Kuss mit der ersten Sommerliebe mündete. Mit dem per Kugelschreiber auf das Etikett einer Platte gemalten X hatte man seinem Sohn vermittelt, welche Seite oben liegen musste, wenn er Eydie Gormés Blame It On The Bossa Nova auflegen wollte – denn der Sechsjährige konnte zwar schon perfekt den Plattenspieler bedienen, hatte aber in der Grundschule gerade erst den ersten Satz „Oma hat den Ball“ zu lesen gelernt. Sicherlich waren das Wichtigste die Songs, doch diese sichtbaren Zeichen von Ereignissen haben die Souvenirs vervollständigt. Heute sind sie eine wichtige Hilfestellung, wenn man als Sohn, Enkel oder Urenkel der langsam tüddelig werdenden Oma hilft, den verstorbenen Opa nicht noch ein zweites Mal zu verlieren – nämlich aus der Erinnerung.
Ob das in vierzig, fünfzig, sechzig Jahren mit einem technisch veralteten, defekten mp3-Player auch noch funktioniert?
Jedenfalls hat mich der Musikschnack nach dem letzten Blogeintrag an ein altes Lied von Lale Andersen erinnert, das ich schon ewig nicht mehr gehört hatte. Digital war es bei mir nicht zu finden, auch nicht in den gängigen Shops, also musste ich ganz altmodisch Die kleine Bank im Alsterpark als Schallplatte auflegen: Schwiegeropas alte Musiktruhe einschalten. Die Schublade mit dem Plattenspieler hervorziehen. Die Platte aus dem Fach im Plattenschrank holen. Vorsichtig aus der Hülle ziehen. Sorgfältig auflegen. Die Plattennadel mit dem Polydor-Reiniger säubern. Den Plattenteller in Gang bringen. Nun auch noch die Platte von Staub befreien. Vorsichtig die Nadel aufsetzen. Knistern. Dann endlich die ersten Takte.
An diesem Abend habe ich mich durch ziemlich viele Platten meiner alten Sammlung gehört und dabei das gefunden, was ich solange beim Musikhören vermisst hatte.
Das wollte ich ein bisschen in den Alltag rübertragen. Nun habe ich nicht überall einen Plattenspieler stehen, die ja doch einiges an Platz benötigen, aber es gibt tatsächlich mehrere CD-Player im Haus, also habe ich diese wieder in Betrieb genommen und meine CD-Sammlung entstaubt. Für das, was ich tatsächlich nur in Dateiform hatte, habe ich mir zum ersten Mal seit gut fünf Jahren wieder eine Spindel mit CD-Rohlingen gekauft und meinem Computer verdammt viel zu brennen gegeben.
Seitdem läuft bei uns zuhause wieder deutlich öfter Musik, die, statt sie als „Fahrstuhlgedudel“ einfach nur wahrzunehmen, auch wirklich bewusst aufgelegt und richtig gehört wird.
Ist echt schön.