Der eine Filialist hat es nicht, der andere ebenfalls nicht, auch die freundliche Dame von einem der letzten verbliebenen Buchhändler der Stadt frei von Konzerndruck bedauert, und selbst der Onlinehandel kann nicht mit dem Gesuchten aufwarten.
Mama erzählt von früher – Opa, wie war es damals – Papa verrät was über dich – Oma kramt im Erinnerungskästchen…
So oder zumindest ähnlich heißen die ganzen Bücher zum Selbstausfüllen, die sich gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit wieder einer ganz besonderen Hochkonjunktur erfreuen. Sie sind quasi eine Weiterentwicklung des Poesiealbums, denn statt sich ungelenker Versuche ergeben zu müssen, Originalität und Versmaß unter einen Hut zu bringen, kann man hier so reden schreiben, wie einem der Schnabel der Füllfederhalter Kugelschreiber in die Hand gewachsen ist und man braucht obendrein nur vorab gestellte Fragen an das Erinnerungsvermögen zu beantworten. „Über welches Ereignis meiner Kindheit musstest du am meisten lachen?“ wird da etwa in dem Buch Papa erzählt vom Sohnemann (oder so ähnlich) gefragt.
Diese Bücher sind eine günstige Gelegenheit, die peinliche Story über den Filius, der im zarten Vorschulalter bei Roberto Blancos Der Puppenspieler von Mexico immer Der PLATTENspieler von Mexico verstanden hat, für die Ewigkeit festzuhalten. Auch über die Tochter gibt es einiges zu erzählen – etwa, dass sie sich als Fünfjährige doch sehr gewundert hat, als die Haare ihrer Lieblingspuppe, die sie so schön geschnitten hatte, partout nicht nachwachsen wollten. Omas und Opas werden meist gebeten, ein Sittengemälde ihrer eigenen Jugend zu zeichnen, und sogar Geschwister können sich mit den peinlichsten Schwänken von einst nochmal so richtig gegenseitig ärgern.
Heute Vormittag hatte ich beim Bücherhöker meines Vertrauens eine Dame vor mir, deren Stapel von mindestens fünfzehn solcher Bücher vermuten ließ, dass sie ihre ganze Familie über die Feiertage als Chronisten mit spitzer Feder gezückter Kugelschreibermine verdingen will. Die ganze Familie? Nein, eine Verwandtengruppe kann nicht damit aufhören sich darüber zu wundern, warum sie ständig übersehen wird.
Erst in dieser Woche gab es bei mir den Anlass für ein ganz großes Familientreffen. Nach dem protokollarisch festgeschriebenen Teil kamen noch einmal alle bei Kaffee, Kuchen und Schnittchen zusammen. Wie immer, wenn Menschen zusammentreffen, die sich mehrere Jahre nicht gesehen haben, werden nach dem Update über die aktuellen Ereignisse vor allem Erinnerungen gewälzt.
Und da kommen bei weitem nicht nur die Familien-„Dienstgrade“ Vater, Mutter, Kind, Oma und Opa zur Sprache. Denn des einen Vater ist eben nicht nur des anderen Sohn und Opa – er ist bisweilen auch Onkel. Vielleicht haben sich die Familienstrukturen inzwischen geändert, aber so lange kann es doch eigentlich noch gar nicht her sein, dass die Onkel (natürlich auch die Tanten, aber hoffe auf Verständnis, wenn ich mir das so genannte „Gendern“ jetzt spare) mindestens ebenso wichtige Verwandte außerhalb des direkten Elternhauses waren wie Oma und Opa. Zum Onkel ging man für Freizeitvergnügen, für die Oma und Opa schon zu alt waren. Die spendierten einem vielleicht tatsächlich den Tag im Freizeitpark, aber die Fahrt in der Wilden Maus machte Opa Gisberts Hüfte nicht mehr mit, und bei der Wasserbahn hatte Oma Klothilde Angst um ihre Dauerwelle, „und die Frau Hansen-Ammersbek kommt doch erst in vier Wochen wieder zu mir.“ Das Anlaufen beim Drachensteigen wollte im Übrigen bei beiden nicht mehr so recht klappen.
Zum Onkel ging man auch, wenn man antesten wollte, wie Mutti und Papa bei gewissen pikanten Themen tickten, schließlich war der Onkel gleichaltrig und hatte mit mindestens einem der beiden eine ganze Reihe von Jahren unter dem selben Dach gelebt, wodurch er eine halbwegs realistische Einschätzung abliefern konnte, welche Reaktion auf die allererste Sechs in Latein zu erwarten war. Oder auf das geschrottete Fahrrad. Oder darauf, dass die ersten romantischen Phantasien sich immer häufiger auf das eigene Geschlecht bezogen.
Onkel wussten über aktuelle Musik, Filme und Fernsehserien Bescheid. Sie honorierten gute Schulnoten ebenfalls mit einer kleinen Finanzspritze. Und wenn man von Mama und Papa bei ihnen zur Übernachtung untergebracht wurde, weil die alten Herrschaften selber mal wieder op’n Swutsch gehen wollten, erlaubten sie noch ein bisschen mehr als Oma und Opa, die einen vielleicht Aktenzeichen XY gucken ließen, aber bestimmt nicht The Fog.
Onkel (und Tanten) sind also durchaus ein wichtiger Teil der Clans, besonders für die jüngste Generation. Sie verbinden das „Wenn Mama und Papa nein sagen, gehe ich zu Oma und Opa“ mit einem noch größeren Verständnis für die Nöte der Limits, denen man in der Jugend ausgesetzt ist, und der eigenen Erinnerung daran, wie schrecklich die typischen Oma-Sätze wie „Du bist aber groß geworden“ und „Schön das feine Händchen geben“ sind. Onkel (und Tanten) sind einfach cool.
Nur für die Verleger solcher Erzähl doch mal‑Bücher scheinen sie Verwandte zweiter Klasse zu sein.
Warum eigentlich?
Ist im Grunde auch egal – sollte nur mal geändert werden.
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