Die wohl epischste Szene aus einem der gerade in schwulen Kreisen sehr beliebten Filme mit hohem „Camp“-Gehalt: Meine liebe Rabenmutter. Die von Faye Dunaway gespielte Joan Crawford verprügelt ihre Adoptivtochter mit besagtem Kleiderbügel, weil diese vergessen hat, die Einmal-Drahtkleiderbügel aus der Wäscherei gegen die richtigen zu ersetzen.
Über den Wahrheitsgehalt speziell dieser Szene, die Christina Crawford auch in ihrer dem Film zugrunde liegenden Autobiographie beschrieben hat, ist über die Jahrzehnte hinweg viel diskutiert worden, ein einheitliches Urteil steht bis heute aus. Einziger Konsens besteht darin, dass Ms. Crawford jr. keine leichte Kindheit hatte, weil Ms. Crawford sr. in Bezug auf die Aufgabe „Eltern sein“ dem Vernehmen nach einiges falsch verstanden hat. So etwas gibt es wohl leider öfter, auch wenn es nicht jedes Mal so extrem verläuft.
Wenn ich nach dieser Einleitung nun von meinem Vater erzähle, muss ich zunächst all jene enttäuschen, die sich gerade gespannt aufgerichtet haben und nun eine schmutzig-schonungslose Abrechnung im Stil eines solchen Enthüllungsbuches erwarten. Damit kann ich leider nicht aufwarten.
Ja, mein alter Herr ist Fußballer durch und durch. Ich bin also quasi vom ersten Atemzug an viel mit „Rasenschach“ in Berührung gekommen. Erst in diesem Jahr hat er nach rund 50 Jahren in seinem Verein bi uns op’n Dörp aufgehört. Spieler, Trainer, Jugendleiter… er hat alle Stationen durch. Nur Vereinsvorsitzender wollte er nie werden – zu viel Verwaltung, zu wenig Beteiligung am wirklichen Spielbetrieb, wo wir doch alle wissen: „Wichtig is‘ auf’m Platz!“
Bei allem Engagement hat mein Vater stets einen realistischen Blick bewahrt – er hat nie jemanden aufs Spielfeld bringen wollen, der dafür partout nicht gemacht war. Auch bei mir hat er es nicht versucht, ich habe nie unter dem Zwang dieser Sportart gestanden, die sich mir nie erschlossen hat, weil ich in ihr keinen einzigen Funken Sinn sehe. Dadurch war es möglich, dass ich als später Teenager freiwillig in sein „Back Office“ bei der Jugendleitung eingestiegen bin: Ich hab bei Großveranstaltungen die kaufmännische Seite inklusive Rahmengeschehen und Tombola betreut, wo es völlig egal war, ob ich mich um einen Fußballverein kümmere, einen Club von Briefmarkensammlern oder um den „Kaninchenzuchtverein Cymbria“ (die Fans von Tratsch im Treppenhaus wissen Bescheid).
So konnte mein Vater sich ganz auf das sportliche Geschehen stürzen und ein verdammt gutes Auge dafür entwickeln, wer etwas in einem Fußballtrikot zu suchen hatte und wer nicht. Zu seiner Trainerzeit hatte er einen Jungen in seiner Mannschaft, der so untalentiert und letztlich so unglücklich war, dass es einem das Herz brach. Mein Vater zitierte die Eltern des Jungen zu sich. Langes ernsthaftes Gespräch. Sehr langes ernsthaftes Gespräch. Zwei weitere folgten. Die Mühle zahlte sich am Ende aus: Der Junge stand nie wieder auf einem Fußballplatz, konnte seinen Lebenstraum erfüllen und war später Tänzer in einem der besseren Amüsierschuppen in Paris. Moulin Rouge, Follies Bergère, Crazy Horse oder Lido – ich habe keine Ahnung mehr, wo genau, doch einer dieser Läden war es auf jeden Fall. Wobei er inzwischen altersmäßig eher bei der Choreographie gelandet sein dürfte, die ganze Geschichte ist nämlich schon eine ganze Reihe von Donnerstagen her.
Die lange Zeit seitdem ist wohl auch die Krux. Stichwort Helikoptereltern: Alle doof außer wir. Ich bin mir nicht sicher, ob man meines Vaters Argumente heute noch ernst nehmen, geschweige denn ihm überhaupt zuhören würde. Zu dieser Überzeugung bin ich nicht zuletzt auch durch ein Ereignis gelangt, das sich erst dieses Jahr im September zugetragen hat:
Ich laufe die Straße am hiesigen Stadion entlang. Schon auf gut 150 m Entfernung bemerke ich einen Jungen von ungefähr zehn Jahren im BVB-Trikot, der sich bitterlich weinend in die Arme seiner Mütter flüchtet. Großes Drama.
Selber hinreichend in der Erfahrung mit malträtierten Sportlerknochen geschult, vermute ich, dass der Junge sich verletzt hat. Man wartet wohl auf Papa mit dem Auto oder sogar den im hiesigen Volksmund „Musikdampfer“ genannten Rettungswagen, und dann ab in die Notfallambulanz.
Doch es kommt anders. Als ich in Hörweite der beiden bin, sagt die Mutter: „Nu‘ is‘ ma‘ gut, ne?“ Sie klingt dabei erstaunlicherweise ziemlich genervt.
Der Junge ist dafür umso verzweifelter: „Ich will nicht Fußball spielen. Ich mag das nicht. Bitte, Mama, bittebitte.“
Die Mutter: „Aber du willst doch mal ein richtiger Mann werden und den Papa stolz machen.“
Es entzieht sich jeder Beschreibung, wie sehr mir da die Halsschlagader angeschwollen ist und ich alle Selbstbeherrschung aufbringen musste, um mich nicht sehr laut und sehr unhöflich einzumischen.
In solchen Situationen wird mir jedenfalls eins klar: Meine Eltern haben sicherlich nicht alles richtig gemacht. Kein Elternpaar macht das, besonders beim Erstgeborenen nicht, denn wir kommen schließlich nicht raus und schwenken dabei eine Bedienungsanleitung. Aber insgesamt habe ich verdammt viel Glück gehabt, und dafür kann ich gar nicht dankbar genug sein.
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