Entschwult?

Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm… Nee, Quatsch, da bin ich mal wieder auf dem völlig falschen Dampfer.

Also nochmal von vorn:

  • Ein Kalender mit nackten Kerls.
  • Eine solide Auswahl echt silberner Kerzenleuchter verschiedener Stilprägungen (Gründerzeit, Jugendstil und Wirtschaftswunder müssen mindestens vertreten sein).
  • Ein Regal mit zig Kochbüchern (die gar nicht gebraucht werden, weil der Wohnungsinhaber perfekt aus der Lameng kochen kann)
  • Die Doppel-CD oder noch besser das originale Vinyl-Doppelalbum von 1962 mit dem legendären Carnegie Hall-Konzert von Judy Garland
  • Mindestens ein echt antikes oder zumindest verdammt gut darauf getrimmtes Möbelstück wie z. B. ein dickpolsteriges Biedermeiersofa, auf dem man zwar unmöglich einen faulen Nachmittag bequem verbringen kann, das aber optisch ungeheuer was hermacht.

Na, wie viele der genannten Einrichtungsgegenstände kommen wohl tatsächlich in einem handelsüblichen schwulen Haushalt vor? Der dank Film, Funk und Fernsehen hinreichend mit Klischees ausgestattete heterosexuelle Leser dieser kleinen Schrift hier wird vermutlich auf alles tippen.

Wenn er ganz ehrlich mit sich selber ist, wird der homosexuell talentierte Mann zu dem gleichen Ergebnis kommen, wenn auch mit der Einschränkung, dass man bei ihm nicht das erwähnte Judy Garland-Album findet, sondern das komplette Œuvre von Barbra Streisand (oder Zarah Leander oder Marlene Dietrich oder Madonna – Gays haben halt mehr Göttinnen als die ollen Römer). Vielleicht hat er nicht alles davon zur selben Zeit besessen, aber früher oder später war alles mal Teil seiner eigenen vier Wände und wurde mit Stolz vorgezeigt.

Die erste eigene Wohnung ist letztlich wie alle eventuell noch folgenden der (Frei-)Raum, in dem jeder Gay sich endlich uneingeschränkt entfalten kann und ganz ohne Limits „ich“ sein kann. Das bedeutet in der ersten Phase tatsächlich das Ausleben dessen, was man sich in der Zeit vor dem Coming out tunlichst verkniffen hat. Wurden die Tonträger der o. g. Göttin nach Wahl zuvor streng unter Verschluss gehalten, um sich das Geläster von Freunden wie Familie zu ersparen und gewisse Rückschlüsse über die sexuelle Orientierung bei selbigen zu verhindern, bekommen sie nun mit einer gläsernen Vitrine an exponierter Stelle im Wohnzimmer endlich jenen Schrein, der ihnen schon von Anfang an zugestanden hat.

Auch der Männerkalender wird nicht mehr unter der Matratze versteckt und nur abends vor dem Einschlafen einmal kurz hervorgekramt um die Hoffnung zu triggern, der aktuelle Kerl des Monats möge doch bitte in der kommenden Nacht im Traum eine prominente Rolle spielen – nein, dieses Druckerzeugnis hängt jetzt out and proud für alle sichtbar im Bad, wahlweise auch im Flur oder im Arbeitszimmer über dem Schreibtisch.

Die Kühlschrankmagneten halten ganz ungeniert die Fotos vom letzten CSD, auf denen der Hausherr je nach Präferenzen und Figur im Lederharness und -hose, in Speedos, Paillettenkleid mit Beehivefrisur oder völlig unverfänglich in Jeans, T-Shirt und Sneakers, aber immer in enger Begleitung von anderen Besuchern dieses regenbogenbunten Festivals betrachtet werden kann.

Es ist die Zeit, in der man feiert, die Fesseln der verborgenen Homosexualität gesprengt zu haben. Man lebt nicht nur das Jetzt aus, sondern auch das in der Vergangenheit Versäumte, man hat Nachholbedarf. Nur gelegentlich wird die Wohnung vorübergehend entschwult – etwa, wenn sich Erbtante Mildred zur Kaffeestunde ansagt. Sie ist nicht mehr die Jüngste, hat den Sprung in moderne Zeiten fast völlig verpasst und immer noch nicht begriffen, dass Heinz Rühmann in Charleys Tante selber in den Fummel geschlüpft ist und kein schlecht geschminktes, aber dafür echt weibliches Double vorgeschickt hat. Dass man für diese zwei Stunden den sündhaft teuren Männerkalender durch das Gratisding ersetzt, welches man beim letzten Weihnachtsschnupfen in der Apotheke bekommen hat, ist weniger als eine Kapitulation vor antischwulen Ressentiments als ein Selbstschutz vor der Mühe, Erbtante Mildred die Welt noch mehr erklären zu müssen als es ohnehin schon möglich ist. Sie hat nämlich auch bis heute nicht kapiert, dass weibliche Kapitäne ebenso gibt wie männliche Hebammen. Sie beschwert sich ja auch immer noch, dass man Raider nicht mehr kaufen kann…

Abgesehen davon schreit man sein schwules Ich mit der Einrichtung förmlich hinaus. Denn natürlich ist die eigene Wohnung nicht nur der private Boxenstopp, um den Akku für die Anforderungen des Alltags wie alle ihn kennen aufzuladen, sondern auch das Trainingscenter, indem man sich erarbeitet, dass es einem vielleicht nicht egal ist, wenn einem draußen irgendwelche Spinner „Schwanzlutscher“ und andere Nettigkeiten hinterherrufen, aber man nimmt es sich zumindest nicht mehr zu Herzen und traut sich sogar einen schlagfertigen Konter zu.

Vor allem aber ist es natürlich Selbstdarstellung, ein „Seht her, liebe Besucher von draußen, so bin ich wirklich: Silberne Kerzenständer, nackte Kerls auf dem Kalender und ich Arm in Arm mit Transen und Lederkerls auf den CSD-Fotos. Nehmt und akzeptiert mich so. Wenn nicht – da ist die Tür.“

Sechsundzwanzig Jahre nach dem Coming out und rund zwanzig Jahre in (da ebenso lange liiert, semi-)eigenen vier Wänden lebend, sieht man bei mir wie auch meinem Mann keine silbernen Kerzenständer mehr, keine Männerkalender, keine Orchidee in schwul-flamboyanten Farben, keine CSD-Fotos und auch nicht das Judy Garland-Album (ich kann Madonna und die Streisand auf den Tod nicht ausstehen und seien sie noch so schwulbeliebt). Jedenfalls nicht mehr auf Anhieb. Sie sind immer noch da, springen aber nicht so sehr ins Auge. Wer uns besucht und versucht in unserer Wohnung die Dinge zu entdecken, die von mir stammen, findet dazwischen auch

  • einen Kalender mit plattdeutschen Gedichten zu jedem Monat über dem Schreibtisch.
  • meine DVD-Sammlung mit einer ganzen Reihe BBC-Produktionen, die nie in Deutschland gelaufen sind.
  • CDs mit English Folk von June Tabor, Jazz von Greetje Kauffeld, kalifornischem Pop von Train und nicht zu vergessen meine Skandinaviensammlung mit Künstlern wie Michael Falch, Rasmus Walter, Rasmus Seebach, Poul Krebs, Hej Matematik! und Christian Brøns.
  • eine ziemlich unoriginelle Sansevieria.
  • Fachbücher über Fährschifffahrt.

Bin ich deswegen weniger schwul als vorher? Wachse ich da allmählich raus? Nee, das nu‘ wirklich nicht. Keine falschen Hoffnungen, liebe Kann man das nicht heilen-Weltfremde da draußen. Denn natürlich bin ich noch schwul – kann man schließlich nicht ablegen wie abends vor dem Zubettgehen seine Kleidung. Aber ich bin es eben nicht ausschließlich. Das bin ich nie gewesen. All die anderen Facetten meiner Persönlichkeit waren während der ganzen Zeit genau so da. Doch weil ich die schon immer gezeigt habe, gab es nicht den oben erwähnten Nachholbedarf. Nachdem der ausgetobt war, konnte sich die Wohnungseinrichtung auspendeln. Es ist eine Balance entstanden.

Denn eins ist unverändert: Meine Einrichtung ist natürlich Selbstdarstellung, ein „Seht her, liebe Besucher von draußen, so bin ich wirklich: Plattdüütsch, ich Arm in Arm mit Transen und Lederkerls auf den CSD-Fotos, Fährschiffe, Ein Käfig voller Narren und schnöde Bürogrünpflanzen. Nebenbei – ich kann kochen UND handwerken. Nehmt und akzeptiert mich so. Wenn nicht – da ist die Tür.“