Moin!
Heute gibt’s nicht nur die hochdeutsche Übersetzung des letzten plattdeutschen Artikels, sondern auch meine kleine Versöhnung mit der sonst von mir so gescholtenen „fünften Jahreszeit“:
Seit vorgestern ist alles vorbei. Ist ja Aschermittwoch gewesen. Aber das Thema Karneval lässt mich nicht so wirklich los.
Vor ein paar Tagen habe ich mich ja ein bisschen über den Karneval an Rhein und Main lustig gemacht. Doch es gibt auch etwas, das mich ziemlich beeindruckt hat. In all den Dokumentationen, die mein Mann im Fernsehen angeschaut hat, ist ein Name immer wieder vorgekommen: Ernst Neger.
Sein eigentlicher Beruf ist Dachdecker gewesen, aber über viele Jahrzehnte hat man ihn sich in Mainz nicht aus dem Karneval wegdenken können, weil er auch so toll gesungen hat. Zwei von seinen Liedern sind den Leuten noch ganz besonders im Kopf und vor allem im Herzen geblieben.
Neunzehnhundertvierundfünfzig ist der Zweite Weltkrieg gerade mal zehn Jahre vorbei gewesen. Überall haben noch Trümmer gelegen, das Wirtschaftswunder ist noch nicht völlig rund gelaufen, und nicht wenige Leute sind von ihrem Essen immer noch nicht wieder richtig satt geworden. Es hat in Deutschland also noch ziemlich übel ausgesehen. In diesem Jahr aber ist Ernst Neger mit dem alten Kinderlied Heile, heile Gänsje (Heile, heile Gänschen) auf die Bühne gekommen. Damit haben Mütter früher ihre Kinder getröstet, wenn sie sich beim Spielen weh getan hatten oder mal mit den Fingern an eine brennende Kerze geraten sind. Aber in diesem Jahr hat Ernst Neger zwei neue Verse hinzugedichtet und damit seine Stadt und die Leute gleich mit getröstet. Sinngemäß hat er seinem Publikum „Der Krieg mag alles in Schutt und Asche gelegt haben. Ist sehr schade, das tut uns weh – aber bald ist auch das vorbei und alles wieder gut“ zu verstehen gegeben.
Auf einmal… bei so einem großen Fest, wo es es eigentlich bloß um Lachen, Spaß und Freude gehen soll… haben da hunderte von Menschen gesessen, geflennt und sich ihrer Tränen nicht geschämt. Einmal rauslassen, was einen bedrückt, nachdem man sich das jahrelang nicht getraut hat.
Zehn Jahre später hat Ernst Neger dafür gesorgt, dass die Menschen nach all den Kriegsschrecken und den Mühen des Wiederaufbaus endlich mal wieder so richtig von Herzen Spaß haben konnten. Sein Humba Täterä hat die Leute bei Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht so vom Stuhl gehauen, dass sie es noch über eine Stunde lang weitergesungen haben, obwohl Ernst Neger schon lange nicht mehr auf der Bühne gewesen ist. Der Elferrat der Veranstaltung ist so hilflos gewesen, dass er nichts anderes tun konnte, als Zeitung zu lesen! Die Leute vom Fernsehen sind auch ganz durcheinander gewesen. Kennt ihr noch diese alte Einblendung, die es sonst nur bei Hans Joachim Kulenkampff gegeben hat? „Die nachfolgenden Sendungen verschieben sich um voraussichtlich sechzig Minuten.“
Damit aber nicht genug. Nach dieser Fernsehsendung ist das Humba Täterä durch ganz Deutschland gegangen. Überall hat man es gesungen, als wäre ein großer Knoten geplatzt.
Wenn ein Künstler es schafft, die Leute so zusammenrücken zu lassen, dass sie gemeinsam singen und das selbe fühlen, und wenn es nur durch dies Kraft dieses Liedes scheißegal ist, ob der Mensch neben einem nun arm oder reich ist, Arbeiter oder Anwalt, ob er in einer Villa wohnt oder einer Mietskaserne – davor habe ich riesigen Respekt.
Lacht mich ruhig aus, wenn ihr wollt, aber für mich sind Heile, heile Gänsje und Humba Täterä von Ernst Neger genauso wichtige Lieder, welche die Leute zusammenrücken lassen wie Pete Seegers We Shall Overcome oder – das ist quasi die Hymne meiner Generation gewesen – Wind Of Change von den Scorpions.
Bei allem Respekt macht mich das aber auch ziemlich nachdenklich. Ich meine, es ist dieser Tage so viel los in der Welt, das wirklich nicht toll ist. Wer wird wohl in zwanzig, dreißig Jahren für uns das Heile, heile Gänsje und das Humba Täterä singen, gerade dann, wenn wir es am nötigsten haben? Oder kriegen wir es noch hin, dass es gar nicht erst so weit kommen muss?