oder: Der Feind neben meinem Bett
Die Straßenbahn fährt schon lange nicht mehr durch unser Viertel. Ist nun alles unterirdisch. Wobei „nun“ ein relativer Begriff ist. „Nun“ heißt in diesem Fall fast fünfzehn Jahre. Aber manchmal fehlt es mir doch noch. Besonders morgens. Früher, wenn das Singen der Vögel draußen auf einmal von so einem Rumpeln untermalt wurde, habe ich noch so tief im Schlaf liegen können, aber mein Unterbewusstsein hat sofort gewusst: Das ist der erste Zug der Linie 408, jetzt musst du aufstehen.
Und das hat gut geklappt. Kein Stress, keine Hektik – so richtig schön entspannt.
Ich brauche keinen Wecker. Ein Wecker ist sogar beinahe der Grund gewesen, dass das traute Glück von meinem Mann und mir vor neunzehn Jahren fast zu Ende gewesen ist, bevor es richtig begonnen hatte!
Es war am Ende der ersten Nacht, in der ich „unter der Woche“ bei meinem Mann gepennt habe. Ich habe richtig tief und fest geschlafen – bis ich auf einmal durch einen Höllenlärm wach geworden bin. Kinder, so habe ich mir immer eine Luftschutzsirene vorgestellt! Es ist aber etwas anderes gewesen: Der Wecker meines Mannes hat Für Elise gespielt. Aber nicht als feine, gefühlvolle Aufnahme von jemandem, der was vom Klavierspielen versteht – Glenn Gould oder so. Nee, so ein künstliches MIDI-File, mit dem man Gläser zum Springen bringen kann, ist mir um die Ohren gehauen worden! Und das um vier Uhr in der Frühe!
Seit dem Tag kann ich Beethoven nicht mehr ausstehen – und mein Mann hat eine klare Ansage gekriegt: „Wenn du willst, dass ich von nun an öfter bei dir penne, dann muss sich was ändern. Der Wecker oder ich!“
Seitdem lassen wir uns vom Radio wecken. Oder besser: Er. Ich kann das nämlich einfach nicht. Immer, wenn ich zu einer festen Zeit wach werden muss und mir meinen eigenen Wecker stelle, bin ich mindestens zwei Stunden vorher voll da und kann nicht mehr schlafen. Das klappt nicht mal für eine Stunde am Sonntagnachmittag – dann schlafe ich gar nicht erst ein.
Ich habe in meinem Leben wirklich alles probiert. Radio, Cassettenrecorder mit meiner Lieblingsmusik, monotones Brummen eines elektrischen Weckers mit „Fallblattanzeige“ statt Zifferblatt – nichts davon hat was genutzt.
Meinen ersten Wecker habe ich zusammen mit meiner Schultüte bekommen. So ein buntes Ding mit einer Zeichentrickfigur auf dem Zifferblatt. Lucky Luke, Asterix, Donald Duck – oder so. Der rechte und der linke Arm sind die Zeiger gewesen. Und das Klingeln war ein sachtes Brring-brring-brring. Eigentlich war da nichts Schlimmes bei.
Doch gleich bei der ersten Anwendung an meinem ersten Grundschultag muss ordentlich was daneben gegangen sein. Ein echtes Trauma, sozusagen. Seit diesem ersten Morgen mit einem ersten eigenen Wecker habe ich es nie wieder geschafft, bis zum Klingeln irgendeines Weckers durchzuschlafen. Seit achtunddreißig Jahren also.
Darum verlasse ich mich auf andere Dinge: Der Turmuhrschlag neben der Kirche neben meinem Elternhaus. Der Motor der Ducati, mit dem der Nachbar von der anderen Seite immer um fünf Uhr dreißig zu seinem Job gefahren ist. Das Klappern vom Briefkasten, wenn die Zeitungsbotin das Regionalblatt für meinen Mann bringt.
Oder eben das Klingeln der ersten Straßenbahn hier in unserem Dortmunder Vierte. Seit die aber eben nicht mehr fährt, verlasse ich mich einfach auf die alte Uhr mit Gongschlag, die in unserer Küche hängt. Die kann ich vom Schlafzimmer aus gerade ebe hören. Wenn ich weiß, dass ich um sechs Uhr aufstehen muss, sage ich dass abends dreimal laut vor mich hin, bevor ich das Licht ausmache und mich umdrehe: „Sechs Uhr. Sechs Uhr. Sechs Uhr.“
Und das klappt! Selbst wenn wir mal vergessen haben, die Küchenuhr aufzuziehen und sie bleibt in der Nacht stehen, dann hilft mir meine innere Uhr. Um sechs bin ich wach, plus-minus fünf Minuten.
Mein Mann hat seinen Wecker natürlich noch. Ein Wecker, der nur für ihn klingelt, macht mir nichts aus. Das höre ich nicht mal.
Frag mich nicht, warum das so ist – das ist eben Tiefenpsychologie.
Hinweis: Bei diesem Text handelt es sich um die hochdeutsche Übersetzung des plattdeutschen Artikels vom 02.04.2017. Weitere hochdeutsche Übersetzungen plattdeutscher Texte finden sich hier, Links zum plattdeutschen Original finden sich in den jeweiligen Texten.