Großstadtmomente

In letzter Zeit hadere ich immer häufiger mit unserem Viertel: Mehr und mehr Luxussanierungen mit anschließenden exorbitanten Mieterhöhungen, das ehemals so bunte Publikum wird immer hipsteriger (keine Ahnung, ob es das Wort so gibt – wenn nicht, habe ich es soeben erfunden).

Vielleicht liegt es auch gar nicht am Viertel oder der neuen Klientel. Es könnte auch sein, dass es mit meinem Alter zusammenhängt. Nein, es folgt jetzt keine der hinreichend bekannten klagen, dass früher alles besser war. Erstens ist das Humbug, und zweitens versuche ich eigentlich immer die positiven Seiten des Älterwerdens herauszukehren. Die Rolle des Zynikers, der einem Kind den bunten Ball wegnimmt, um ihm die Schlechtigkeit der Welt zu verdeutlichen statt ihrer guten Seiten, liegt mir nicht.

Im Grunde weiß ich gerade selbst nicht so recht, worauf ich eigentlich hinaus will. Ja, durch die neue Klientel ist es hier lauter geworden, aber letzten Endes mag ich es ja, die vor einer ganzen Reihe von Jahren so treffend besungene Großstadtmelodie bis in den frühen Morgen zu hören. Außerdem habe ich vor zwanzig, dreißig Jahren meine Musik selbst bisweilen lauter als für meine Umwelt erträglich gehört (auch wenn meine Parties nie nachts um vier durch die von den Nachbarn alarmierte Polizei beendet wurden, wie wir in unserem Karree dieses Jahr schon mehrmals erleben durften). Manchmal muss man eben einfach die Sau raus lassen. Zudem fürchte ich, dass zumindest die Nachbarn direkt über, unter und neben uns heilfroh sein werden, wenn am kommenden Montag die aktuelle Staffel meiner Lieblingsserie endet und es für den bis zur nächsten Staffel in sieben Wochen ruhiger auf unserem Balkon sein wird.

Unverständnis den jüngeren Menschen gegenüber kann also auch nicht wirklich sein, was mich gerade beschäftigt. Ich weiß gerade wirklich nicht, zu was konkret ich mich hier heute auslassen möchte.

Oh – irgendwo im Karree hört gerade jemand Radio. Irgendeinen Schlagersender. Gerade läuft Ich hätt‘ getanzt heut‘ Nacht aus einem der beliebtesten Musicals überhaupt.

Hm… Da triggert gerade etwas meine Erinnerung.

My Fair Lady – Pygmalion – George Bernard Shaw.

Ha, ich glaub’, jetzt hab’ ich’s!

Die Jugend ist verschwendet an die Jungen. Dieses Zitat wird Mr. Shaw doch im allgemein zugeschrieben, oder?

Ich weiß zwar immer noch nicht, ob ich mit diesem Gedanken auf dem richtigen Dampfer bin, aber versuchen wir’s:

Neulich war ich ein paar Straßen weiter zu Besuch beim Saftschubser. In eine der Wohnungen in seinem Karree ist kürzlich ein junger Mann eingezogen. Nach außen hin das, was man einen Karrieretypen nennt: Gutaussehend, lebenshungrig, sportlich, eloquent, großer Freundeskreis, beruflich erfolgreich, mit gerade mal einundzwanzig Jahren hat er bereits einen 1er BMW als Dienstwagen.

Woher der Saftschubser das alles weiß? Nun, sein neuer Nachbar hat eine sehr tragende Stimme – wenn er nicht irgendwas mit Wirtschaft zu tun hätte, müsste der Mann dringend zur Bühne. Oder auf dem Fischmarkt in Hamburg Aale verkaufen. Denn wenn er bei offener Tür in seiner Küche sitzt und spricht, ist das so laut, als würde er direkt neben uns in der Küche des Saftschubsers sitzen.

(Das ist dann übrigens auch in unserem Karree ab einer gewissen Uhrzeit ein ziemlicher Nachteil gegenüber der Kurort-Ruhe, die wir bis vor ein paar Jahren noch im Viertel hatten: Wenn ich um zwei Uhr nachts draußen sitze und einfach nur in den sternklaren Nachthimmel schauen möchte, will ich partout nichts über die Glutenallergie der Kollegin der dauertelefonierenden Nachbarn auf der anderen Seite des Hofes hören.)

Jedenfalls kann der schöne Schein manchmal ziemlich trügen. Neulich war ja das DFB-Pokalfinale, und passend zum tollen Wetter waren viele zum gemeinsamen Freiluft-Rudelgucken in die nahegelegenen Biergärten der Umgebung gezogen oder sogar die eigenen Fernseher und den heimischen Diwan in den Garten/auf den Balkon gewuchtet.

Der Saftschubser, seine Frau, beider Filius und ich – allesamt Fußball-Nihilisten – hatten uns lediglich zum zwanglosen Plauderstündchen bei einem Kaltgetränk und etwas zu knabbern getroffen. Dadurch bekamen wir umso lauter mit, dass eben jener junge Mann mit ein paar Freunden zuhause geblieben war, um das größte TV-Event der Saison zu verfolgen. Sogar den Auftritt von Helene Fischer haben wir hören können. Okay, nur den Beginn davon, denn da merkten wir, dass uns ein wenig kalt war und es opportun erschien, das Fenster für ein Viertelstündchen zu schließen.

Irgendwann war er dann da – der magische Moment, in dem feststand, dass die Mannschaft des lokalen Bolzvereins dieses ach so wichtige Spiel gewonnen hatte. Großes Jubelgeschrei, das kein Ende nehmen wollte. Doch stürzte besagter Nachbar tränenüberströmt auf den Balkon und stammelte: „Finalsieger… Ich bin so stolz auf die Jungs… Das ist der schönste Tag meines Lebens.“

Als wir vor etwa um 2010 – 2012 aus gegebenem Anlass die Wohnung meines Schwopa (SchwiegerOpa) ausräumen mussten, war eine Schellackplatte von einem gewissen Willy Schneider dabei: Man müsste nochmal zwanzig sein.

Rein körperlich gesehen ein wunderbarer Gedanke: Gelenke, die morgens beim Aufstehen nicht knarzen, und ein Hintern so knackig, dass man eine Euromünze darauf springen lassen kann.

Aber nochmal zwanzig sein und so wenig Kerben für mit meiner eigenen Kraft selbst errungene Erfolge ins Holz geschlagen, dass ich mir die Erfolge Wildfremder als den „schönsten Tag meines Lebens“ anziehen muss?

Nee, danke.

Dann doch lieber mehr als doppelt so alt und knackende Gelenke (der Bindegewebezustand meines Hinterns geht außer meinem Mann niemanden etwas an), dafür zig „schönste Tage meines Lebens“ und sonstige Erfolgserlebnisse, die ich mir selber erarbeitet habe.