Reisetagebuch Hamburg, Juli 2017 – Teil 4
oder „Punkt-Punkt-Punkt-Komma-Strich“.
„Punkt-Punkt-Punkt“ deswegen, weil es trotz nur eines einziges Programmpunktes an diesem Tag so einiges gibt, das aufgrund von Überfülle aus dieser Erzählung ausgelassen werden muss.
„Strich“ sowohl wegen 2x „strichweise“. Nämlich erstens wegen der strichweisen Skizzierung (okay, diese Metapher ist sehr weit hergeholt) dessen, was Hamburg zu dem gemacht hat, was es ist. Und zweitens – zur Abwechslung gibt’s mal wieder Regen. Ebenfalls strichweise.
Mittwoch, 12.07.2017
Cryin‘ In The Rain – Regennacht in Hamburg – Rainy Night In Georgia – Ich steh‘ im Regen – Baby, es regnet doch…
Es ist ein Déjà vu, und keines von den guten, das mich heute schon wieder damit beginnen lässt, mich auf die Titel von Liedern mit Regenbezug zu besinnen, während ich langsam wach werde. Erneut prasselt es draußen in schönster Beharrlichkeit. Gestern am späten Nachmittag hat es angefangen und seitdem nicht wieder aufgehört.
„Aber du bist doch nicht aus Zucker!“ – „Ach, du halt dein‘ Rand!“
Ich weiß nicht, wen ich da in meinem Hinterstübchen gehört habe. Die eigene innere Stimme? Oder war es die die Erinnerung an einen längst verblichenen Verwandten mit einem Faible für Kalendersprüche? Is‘ ja auch egal. Bis zu einem gewissen Grad macht mir Regen überhaupt nichts aus. Erst recht nicht, wenn es ein warmer Sommerregen ist. Früher bin ich mit meinem Hund Sammy (Grüße in den Hundehimmel – du fehlst auch nach zwanzig Jahren noch!) gerade bei Regen zu langen Spaziergängen durch die Felder bi uns op’n Dörp losgezogen.

So würde ich Hamburg gerne heute sehen. Hat Petrus aber gerade nicht im Programm.
Wobei ich sagen muss, dass es gestern Abend kaum Gelegenheit gab, sich über das Wetter zu mokieren. Ich bin zwar zweimal ziemlich nass geworden, aber wenn man ins Gespräch mit seinen neuen Reisebekannten vertieft ist, bekommt man das kaum mit. Der Abend war sehr gelungen: Tolles Essen, spannende Klönschnacks – und wir haben Tränen gelacht, als die beiden versucht haben, von mir den Satz He goht doar dor de Döör doar dor (Er geht da durch die Tür da durch) zu lernen.

Statt dessen dominiert wieder die Farbe grau, ergänzt durch lange Schnüre prasselnden Regens (hier im Bild nicht zu sehen, da dieses gestern aufgenommen wurde – zwei Minuten bevor die Beglückung von oben einsetzte)
Nun bin ich aber wieder auf mich alleine gestellt, denn heute Morgen haben die beide gerade noch Zeit, den ausgefallenen Besuch beim Michel nachzuholen. Um die Mittagszeit geht es dann für sie zum nächsten Teil ihrer Europareise: Shopping und Sightseeing in Berlin – der ICE macht’s in nur anderthalb Stunden möglich. Tja, aber was stelle ich nun mit mir an? Ich sehe den Wald vor lauter Bäu… äh, den Regen vor lauter Tropfen nicht! Ein Anruf bei meinem Gemahl bringt die Erleuchtung: „Du wolltest doch schon immer mal in dieses Museum.“
Allerdings!
„Da hätteste auch selber drauf kommen können!“ – „Ach, du halt dein‘ Rand!“
Damit ist natürlich nicht mein Mann gemeint, sondern diese verflixte innere Stimme, die schon wieder ihren vorlauten Rappel in Gang gesetzt hat. Es stimmt trotzdem: Das Museum für Hamburgische Geschichte will ich mir wirklich schon seit Ewigkeiten anschauen, bloß war dazu in den vergangenen drölfzig Jahren das Wetter immer zu gut. Mal ehrlich, es gibt nur wenige, die sich bei Sonne und Traumtemperaturen für ein Museum entscheiden statt ins Freibad im Stadtparksee oder an den Elbstrand zu fahren. Damit ist die Entscheidung gefallen: Ich fahre zum Holstenwall rüber und stehe pünktlich zur Öffnung der Pforten um zehn Uhr vor selbigen.
„Woran erkennt man, dass die Ferienzeit naht?“ – „Ach, du halt dein‘ Rand!“
Das hatten wir gestern schon, liebe innere Stimme. Wobei du diesmal recht hast. So ein Museum ist immer ein dankbares Ziel für Schulklassen, die mal andere Luft als nur die des eigenen Klassenzimmers atmen wollen. Die Lehrer gleich dreier Schulklassen stehen vor mir an der Kasse, es wird also einiges los sein. Aber das dürfte sich ziemlich verlaufen, wenn das Innere des Museums so groß ist, wie es von außen wirkt.
Und das ist es. Nachdem ich meinen Obolus entrichtet, stehe ich ziemlich verloren in der riesigen Halle und weiß nicht so recht, wo ich beginnen soll. Das mit der Eintrittskarte ausgehändigte Begleitheft gibt Aufschluss, dass man sich im ersten Stockwerk chronologisch durch die Hamburger Geschichte arbeiten kann. Da aber jetzt eben die besagten drei Klassen losgezogen sind, dürfte es genau da jetzt ziemlich voll sein.

Die einzige Fotoausbeute vom heutigen Tag: Mein Ticket für das Museum für Hamburgische Geschichte, eingeklebt in mein Reisetagebuch
Folglich steige ich das zweite Geschoss hinauf und widme mich dort der Dauerausstellung Juden in Hamburg. Eingebettet in einen historischen Abriss von der Ankunft erster jüdischer Bürger in Hamburg über das Wirken bedeutender Persönlichkeiten wie dem Bankier Salomon Heine (der z. B. nach dem Großen Brand 1842 mit großzügigen Spenden den Wiederaufbau Hamburgs ermöglichte) und die Zeit des Dritten Reiches bis heute, erfährt man viel über jüdisches Leben und jüdische Traditionen wie das Laubhüttenfest. Man sieht lebensgroße Dioramen über jüdische Wohnkultur oder Modelle von den Wirkungsstätten der Berufe und Geschäfte, die von Hamburgs jüdischen Einwohnern am häufigsten ausgeübt wurden, wie etwa eine Tuchmacherei. Natürlich sind auch Holzmodelle Hamburger Synagogen zu sehen, darauf aufbauend gibt es einen abgeteilten Raum, in dem eine komplette Synagoge mit ihren wichtigsten Ausstattungsmerkmalen skizziert ist.
Schaukästen mit Gegenständen wie den Werkzeugen zur Beschneidung und Räume mit Audio-/Videopräsentationen runden den detailreichen Überblick über die Geschichte jüdischen Lebens zwischen Integration und Verfolgung in der Hansestadt ab. Besonders fällt mir eine Kippah/Yarmulke für Kinder auf, die Micky Maus als Motiv hat. Ein spannender Museumsteil, dem ich viel Aufmerksamkeit widme.
Als nächstes besuche ich die Ausstellung mit den Historischen Wohnräumen, die sich ebenfalls im zweiten Stockwerk befindet. Hier schaue ich mir mit Originalstücken eingerichtete Nachbauten von Wohn- und Essräumen aus alten Hamburger Häusern an.
Letzte Station hier oben ist die Modelleisenbahn in Spurweite 1, deren Szenerie mit 1.200 Metern Gleisen dem Streckenabschnitt Hamburg-Harburg und dem Hauptgüterbahnhof machempfunden ist. Ein Vergleich mit dem Miniaturwunderland hinkt natürlich meilenweit – allein schon wegen der dort verwendeten Spurweite H0, die kleiner ist und damit auf gleicher Fläche mehr Darstellungsmöglichkeiten bietet. Trotzdem bin ich geneigt, die Anlage hier im Museum vorzuziehen, eben weil sie mir die Möglichkeit gibt, alle Details wirklich aufzunehmen. Das Minitaturwunderland ist beeindruckend, keine Frage – aber es erschlägt einen irgendwann mit seiner Vielfalt.
Es ist nach zwölf Uhr, als ich eine Etage tiefer den stadtgeschichtlichen Rundgang von der Gründung der Hammaburg bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beginne. Der erste Teil dokumentiert in Dioramen, Modellen und Artefakten die Zeit vom 9. Jahrhundert bis zur Blüte der Hanse und der Reformation. Natürlich dürfen der partielle Nachbau einer Hansekogge und der Blick auf das Leben Klaus Störtebekers nicht fehlen. Unter anderem ist der angebliche Schädel des Freibeuters zu sehen und dahinter eine Nachbildung des vermutlichen Aussehens seines Kopfes zu Lebzeiten. Ich schwanke, ob ich das wie eine Rummelplatzsensation empfinden soll, entscheide mich aber dagegen. Dieser Wachs(?)kopf mit dem verfilzten strohblonden Haar dürfte den wahren Verhältnissen zur Zeit von Störtebekers Exekution auf jeden Fall deutlich näherkommen als alles, was man je in Hollywoodschmonzetten erleben durfte, wo Piraten auf dem Weg zum Schafott immer wie alberne Lackaffen aussehen.
Während ich durch die dieser Epoche gewidmeten Räume schlendere, wundere ich mich, wie viele Besucher ungeniert und scheinbar auch ungehindert fotografieren. Ich dachte immer, das darf man nicht…?
„Hättest dich ja selber mal an der Kasse erkundigen können, ob das erlaubt ist, dann hätteste mit deinem Ackerschnacker…“ – „Ach, du halt dein‘ Rand!“
Selbst wenn es hier im Haus wirklich carte blanche für die Benutzung von Kameras gibt – ich würde es gar nicht wollen. Ja, der fest eingeplante Besuchsbericht im Blog wird durch seinen Illustrationsmangel auffallen, aber ich will die Ausstellung durch meine lodderigen Ankerklüsen (für die Nicht-Nordlichter: Augen) betrachten, ohne dass da so eine blöde Kameralinse zwischen ist. Man beraubt sich doch selber seiner Eindrücke.
Der nächste Abschnitt erzählt von Kultur, Gesellschaft und natürlich der Wirtschaft ab dem 16. Jahrhundert. Schmuckstück ist natürlich das Holzmodell des Salomonischen Tempels, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts gebaut wurde. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass es mich so gar nicht anspricht. Ich sehe einfach nur ein großes Stück sehr dunklen Holzes.
Ich weiß nicht, ob es am Tempel an sich liegt, doch hier bemerke ich das Fehlen der Artefakte aus der Ausstellung Juden in Hamburg. Irgendwie ist es unpraktisch, dass dieser Aspekt der Stadtgeschichte in eine eigene Abteilung integriert wurde. Egal, ob man sich diesen Teil zuerst anschaut oder den stadtgeschichtlichen Rundgang macht – durch die Trennung ist es irgendwie schwierig, beides in einen gemeinsamen Kontext zu bringen, weil man geistig einfach gerade ganz woanders ist.
„Hay goat door door day dœr…“ – „Ach, du halt dein‘ Rand!“
Verdammt, habe ich gerade wirklich hörbar gekichert, oder warum schaut der so belesen aussehende Herr mit der Dr.-Snuggles-Brille so merkwürdig in meine Richtung? Ich weiß ja selber nicht, warum ich gerade jetzt wieder an Adam und Steve denken muss. Plattdeutsch mit kanadischem Akzent ist jedenfalls göttlich!
Über die weiteren Räume, die u. a. speziellen Themen wie der Entwicklung der Mode, der Wohnkultur oder der schönen Künste durch die Jahrhunderte gewidmet sind, arbeite ich mich langsam zu der Epoche vor, die mich am meisten fasziniert: Hamburg ab dem 19. Jahrhundert. Ein Raum ist etwa dem großen Brand von 1842 gewidmet und zeigt u. a. aus den zerstörten Häusern geborgene Wohngegenstände. Gläser, die einmal kunstvoll und filigran gefertigt wurden, sind zu Glasklumpen zusammengeschmolzen. Sie sind tragische Zeugen einer der größten Tragödien Hamburgs und dennoch irgendwie würdevoll schön, weil sie nicht zur Unkenntlichkeit zerschmolzen sind, sondern immer noch in feinen Details erahnen lassen, wie sie ausgesehen haben, als sie im Gebrauch ihrer Besitzer waren.
Ganz groß vertreten ist natürlich der Bereich Seefahrt und Handel. Die Entwicklung von der Eroberung der Südsee durch die großen Kaufmannshäuser dank des Umschlags von Waren wie Kopra bis zum heutigen Welthafen wird ebenso thematisiert wie die Bedeutung Hamburgs als Auswandererhafen.
Riesige Modelle von Schiffen und des Hafens lassen mich mit großen Augen (und wahrscheinlich auch staunend offen stehendem Mund) wie ein kleiner Junge wirken. Aber da befinde ich mich in guter Gesellschaft. Die meisten Besucher männlichen Wesens laufen genau wie ich mit diesem weggetretenen Blick Marke „verliebtes Schaf“ durch die Gegend. Besonders die Nachbauten der berühmten Hamburger Schiffe Prinz Hamlet (die erste Englandfähre), Hamburg (die später als beliebtes Kreuzfahrtschiff Maksim Gorkiy bekannt wurde) und Cap San Nicolas (Schwesterschiff der Cap San Diego) würde ich am liebsten sofort einpacken. Okay, wenn ich diese Modelle im Maßstab 1:1.000 in unserer Wohnung aufstellte, bliebe kein Platz mehr für meinen Mann, aber ein bisschen Schwund ist halt immer!
Absolutes Highlight der Abteilung Seefahrt ist das komplette Brückenhaus des Dampfers Werner, dem ein eigener, zwei Stockwerke hoher Saal gewidmet ist. Entweder gibt es tatsächlich keine Hinweistafel über die Daten der Werner oder ich übersehe sie, weil bei mir langsam Ermüdungserscheinungen eintreten. Aber ausgehend von dem, was ich in den vollständig eingerichteten Räumen Messe, Kombüse, Kapitänskajüte und Funkbude ersehen kann, dürfte die Werner in den 1920er, 1930er Jahren erbaut worden sein.
[Einfügung nach der Rückkehr nach Dortmund: Auf YouTube ist ein Video zu finden, welches einen Rundgang durch das Brückenhaus der Werner zeigt.]
Last but not least geht es um Hamburg im 20. Jahrhundert. Hier sind besonders viele Lebenssituationen mit Originalstücken nachgestellt: Vom Luftschutzkeller aus dem 1. Weltkrieg über eine Wohnung aus den Wirtschaftswunderjahren bis zum Yuppie-Loft der späten 1990er werden die Lebenswelten dargestellt und es gibt von der Gasmaske für Kleinkinder aus dem 2. Weltkrieg über einen Kulissenentwurf für das Stück Strandräuber im Ohnsorg Theater und knallorangenen Badesandalen mit scheußlichen Plastikblumen auf den Schnallen so einiges Sehenswerte zu bestauen.
Lediglich die den 1950ern/60ern zugeordnete Jukebox für Schallplatten (für die Jüngeren: Stellt euch das wie einen CD-Player von der Größe eines amerikanischen Kühlschranks vor) entlockt mir ein missbilligendes „Tz, tz, tz“: Sie ist historisch völlig inakkurat auch mit Platten der 1980er und 1990er bestückt, und außerdem ist auf der Liste der verfügbaren Platten der Name einer Sängerin falsch geschrieben – es heißt Connie Francis und auf gar keinen Fall Conny Francis. Das tut jedem Musik-Connaisseur weh!
Besonders angetan hat es mir hingegen die Nachbildung eines Milchgeschäftes aus den frühen 30er Jahren. Neben der (soweit ich es beurteilen kann) originalgetreuen Einrichtung ist hier das im Hintergrund laufende Tonband mit einer Hörspielszene, welches die Atmosphäre so lebendig macht. Man hört das Gespräch zwischen der Besitzerin des Milchgeschäfts und einer Kundin. Es geht um den Aufstieg der Nazis, der die einen ängstigt und die anderen mit Hoffnung auf bessere Verhältnisse erfüllt, aber auch um drohende und erfolgte Arbeitslosigkeit im Kielwasser der Weltwirtschaftskrise 1929 und die Peinlichkeit des daraus resultierenden Geldmangels. Wenn die Besitzerin des Ladens fragt, warum die Kundin denn keine Eier und nur noch Margarine statt Butter kauft, hört man sowohl Besorgnis um die eigenen Umsätze heraus, aber auch nur mühsam verborgene Tratschlust. Die Kundin hingegen sucht rasch nach Ausreden und windet sich vor Scham.
Als Hörspielliebhaber und treuem Hörer der Reihen Das niederdeutsche Hörspiel und Hör mal ’n beten to im NDR-Radioprogramm höre ich sofort raus, dass ich hier die Schauspielerin Beate Kiupel vom Ohnsorg Theater als Kundin höre. Bei der Ladenbesitzerin bin ich mir nicht ganz so sicher, aber es könnte Edda Loges sein. Jedenfalls machen beide ihre Sache großartig.
Es gibt sicher noch mehr, über das ich berichten könnte. Doch als ich irgendwann auf die Uhr schaue, ist es fünfzehn Uhr zwanzig. Ich war also über fünf Stunden in diesem tollen Museum, das ich wirklich nur empfehlen kann. Doch ich kann beim besten Willen nichts mehr aufnehmen. Jetzt, hier beim Schreiben im Hotelzimmer, kann ich mich auch nicht mehr an alles erinnern. Die Fülle der Eindrücke hat mein Gehirn irgendwann einfach auf das Testbild umschalten lassen.

Nach dem Testbild die Hoffnung: Vielleicht kriegen wir ja *morgen* endlich *so* einen Himmel zu sehen…
„Wie – und vom Rest des Tages willste nicht mehr erzählen?“ – „Ach, du halt dein‘ Rand!“
(Fortsetzung folgt)
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