Na, endlich!

Reisetagebuch Hamburg, Juli 2017 – Teil 5

 

Der vorletzte Tag in Hamburg. Was habe ich nicht für Pläne gehabt. Dank Fieberschub, Schietwedder und zig Improvisationen habe ich nicht mal die Hälfte davon umsetzen können. Wobei ich mich nicht beschweren will. Das Alternativprogramm war ja bisher nicht wirklich schlecht. Trotzdem bin gespannt, ob sich auf den letzten Metern doch noch was in Richtung Ursprungsideen ändert…

 

Donnerstag, 13. Juli 2017

„Das Wetter hier ist großartig!“

Für einen Moment bin ich geneigt, meinen Ackerschnacker an die Zimmerwand zu werfen. Oh, du lieber Göttergatte, du Engel der Barmherzigkeit…! In Dortmund ist es also sonnig. Wahrscheinlich gehst du gleich schön gemütlich in unserem Lieblingscafé frühstücken und erfreust dich am Anblick der vorbeiflanierenden attraktiven Männer in ihren kurzen Hosen und den T-Shirts, die ihre Bizepse betonen. DANKE FÜR GAR NICHTS!!!

Ich weiß, ich bin quengelig, und das macht ungerecht. Aber selbst die größte Überzeugung wird zur leeren Plattitüde, wenn es nicht irgendwann doch mal eine Abwechslung gibt. „Hamburg ist die schönste Art, nassgeregnet zu werden“, zum Beispiel.  Zugegeben, diesen Satz gebe ich selber oft genug von mir. Aber heute könnte es gefährlich werden, ihn in meiner Hörweite zu bringen.

Aber ich bin fest entschlossen, es mir die Petersilie nicht völlig verhageln zu lassen. Wenn’s gleich wieder pladdert… Hamburg hat noch mehr spannende Museen zu bieten! Also aufstehen, duschen, anziehen, runter zum Frühstück. Als ich die Vorhänge in meinem Hotelzimmer beiseite ziehe, pralle ich zurück. Was ist das denn?!

Vorwiegend klarer Himmel, und in den Fenstern des halbschräg nach links gelegenen Nachbarhauses spiegelt sich so ein greller gelber Ball. Er liegt ’n büschen im Dunst des frühen Morgens, aber er ist zweifellos da.

Schiet wat op Freuhstück – af vun’n Hoff, un dat fix!

Also aufstehen, duschen, anziehen, runter – bis hierher wie gehabt. Doch statt in den Frühstückraum zu gehen, biege ich im Erdgeschoss nach links ab, gebe meinen Zimmerschlüssel an der Rezeption ab und bin draußen. Was sich vom Zimmer aus nur in Ausschnitten zeigte, ist im Gesamtbild auch ganz vielversprechend. Kein Regen, die Sonne dominiert, und die letzten paar dicken Wolken mit Sitzfleisch werden wohl auch bald verduften. Kein Zweifel: Der Himmel ist auf Sommer eingestellt!

Na, endlich!

Schnell mit dem Ackerschnacker ein Foto gemacht und in eine WhatsApp gen Ruhrpott gepackt: „Pathetischer Versuch, mich neidisch zu machen, kolossal gescheitert. Viel Glück fürs nächste Mal.“ Drei dicke Smileys hinzugefügt und dann abgeschickt.

Jetzt fahre ich erst einmal nach Altona rüber. Mit den G20-Krawallen hatte ich ja von vornherein gerechnet, aber ansonsten fehlt mir jede Erfahrung mit solchen Spektakeln unn vor allem ihren Nachwehen. Also hatte ich im Januar nur die Hinfahrt fest gebucht und die Rückfahrt offen gelassen – falls es mal nötig sein sollte, spontan verduften zu müssen.

Heute muss ich mich aber nun wirklich um ein Ticket bemühen. Die ganz tollen Sparpreise werde ich natürlich nicht mehr bekommen, aber das, was heute noch abzustauben ist, kommt mich immer noch günstiger als der volle Preis, der morgen quasi zehn Minuten vor Abfahrt fällig würde. Außerdem ist morgen Freitag – die vielen Fernpendler fahren übers Wochenende nach Hause, und ich habe keine Lust drei Stunden im Gang zu stehen. Eine Sitzplatzreservierung muss auch her.

Natürlich könnte ich meine Rückfahrt auch an einem Automaten im Hauptbahnhof buchen. Aber in diesen Tagen sollen bei der S-Bahn umfangreiche Bauarbeiten beginnen, das hat wiederum Streckensperrungen zur Folge, und ich will ich erstmal checken, wie die meine Abreise beeinflussen. Denn entgegen anders lautender Überlegungen will ich definitiv wieder von Altona aus fahren: Die dort beginnenden Züge werden bereits gut 20 Minuten vor der Abfahrt bereitgestellt, wodurch man völlig stressfrei einsteigen und es sich auf seinem Platz kommodig machen kann. Außerdem hat man auf der Fahrt via Dammtor rüber zum Hauptbahnhof einen tollen Abschiedsblick auf die Alster.

Die Buchung erweist sich als schwieriges Unterfangen: An sieben Automaten erhalte ich die Meldung, dass meine BahnCard nicht gelesen werden kann.

Na, toll!

Ich richte mich schon darauf ein, viiiiiiiel Zeit im DB-Kundenzentrum zu verbringen, um dort die Funktionsfähigkeit meiner noch bis Oktober gültigen BC checken und mir ggf. Ersatz aus Papier ausstellen zu lassen – denn ich will ja nicht morgen bei der Ticketkontrolle mit einer aus welchem Grund auch immer ungültigen BC auffallen und ziemlich viel Geld als halber Schwarzfahrer blechen müssen. Letzter Versuch an Automat # 8. Erfolg.

Na, endlich!

Großes Aufatmen, dann Ticket gebucht. Um 15:33 Uhr geht es morgen gen Dortmund. Eigentlich wäre ich ja lieber wie immer mit dem vorletzten Zug des Tages um 20:33 Uhr gefahren, aber für den gibt es keine Sparpreise mehr – diese Verbindung ins Wochenende muss bei den Pendlern beliebter als alle anderen sein.

Jetzt rüber nach Blankenese. Nach dem Stress mit der BC gelüstet es mich jetzt nach Nervennahrung: Es gibt ein Franzbrötchen. Hierbei lässt sich übrigens noch nicht erkennen, dass ich in Hamburgs berühmtesten Nobelvorort bin – es kostet genau so viel wie downtown.

Natürlich zieht es mich zur Elbe, und der schönste Weg dorthin ist der durchs Treppenviertel. Obwohl ich schon oft hier war, bin ich weit davon entfernt, mich in diesem Labyrinth perfekt auszukennen. Deswegen nehme ich jetzt auch prompt den falschen Abzweig und lande viel früher unten am Elbufer als eigentlich vorgesehen. Aber egal. Ich will ohnehin Uwe besuchen.

Erstmal runter vom festen Weg. Hui, ist das hier windig. Verdammt, ich hab natürlich sofort meine Mütze verl… Ach, nee. Die ist ja im Hotel, oller Dussel. Blick zum Himmel. Ein paar letzte Wolken haben sich noch einmal in einer zu allem entschlossenen Gang zusammengerottet. Es wird ihnen nichts bringen. Ganz hinten am Horizont lässt sich schon ausmachen, dass es heute überall in der Stadt noch so richtig sonnig wird.

Na, endlich!

Der Leuchtturm von Blankenese.

Kurz auf einen Randstein gesetzt. Hosenbeine zur Wade hochgerollt, Schuhe aus, Socken aus. Letztere in der Tasche verstaut, die Schuhe an den Schnürsenkeln zusammengebunden und über die Schulter gehängt. Und dann durch den Sand. Hinter dem Leuchtturm von Blankenese kann ich sogar so dicht an der Wasserkante gehen, dass die Elbwogen gerade eben meine nackten Füße umspülen. Pfeifender Wind, rauschende Wellen, schreiende Möwen, Schiffe. Weite und Freiheit spüren.

IST!

DAS!

GEIL!

Endlich bekomme ich das, wonach ich die ganze Zeit am meisten gegiert habe. Ganz automatisch schalten meine Gedanken in den Leerlauf. Ich kann endlich den Alltag aus Dortmund und die zusätzlichen unvorhergesehenen Ereignisse der letzten zwölf Montag vollständig loslassen und mich ganz auf das Laden meiner Akkus einlassen.

„Focko! Hierher! Sofort!“

Der Ruf kommt zu spät. Focko springt mir von hinten an den A…llerwertesten und ich lande fast Gesicht voran im Elbsand. Aber eben nur fast. Ich kann mich gerade noch fangen. Focko läuft um mich herum und freut sich mich zu sehen. Die Freude ist ganz meinerseits. Dabei sind wir uns gänzlich unbekannt. Fockos Frauchen ist inzwischen nach einem von ihr nicht geplanten Sprint bei mir angelangt und entschuldigt sich wortreich. „Der hat heute wieder seine dollen fünf Minuten.“

Ich beteuere wahrheitsgemäß, keinen Groll gegen Focko zu hegen – im Gegenteil. Ich bin nun mal Hundenarr und kann keinem böse sein, wenn er an mir hochspringt. Schon gar nicht, wenn es ein weißer Labrador ist.

„Der versaut Ihnen doch die ganze Kledaasche!“

„Keine Sorge – dafür gibt es Waschmaschinen!“

Ich kraule Focko ausgiebig und werfe sogar seinen Ball. Der landet natürlich im Wasser (ich würde nicht mal auf drei Meter ein Scheunentor treffen) und der Hund jachtert ohne zu zögern hinterher. Nun ist es an mir, mich wortreich zu entschuldigen. Diesmal winkt Frauchen lächelnd ab. „Der Tag, an dem der mal trocken nach Hause kommt, muss noch erfunden werden.“

Wir plaudern noch ein paar Minuten, dann muss sie zurück. Sie hat nachher einen Friseurtermin. Sie pfeift nach Focko. Schon nach dem fünften Mal kommt er angelaufen…

„Na, endlich…“,

… atmet Fockos Frauchen erleichtert auf und die beiden ziehen von dannen.

Ich atme durch. Was für eine kurze, aber hochsympathische Begegnung. Mir begegnen weitere Strandläufer, teils solo, teils mit Begleitung von sowohl zwei- als auch vierbeiniger Art. Sie alle grüßen mich so freundlich und so vertraut, als würden wir uns seit Jahren täglich begegnen. Wenn es irgendetwas gibt, von dem ich sagen kann, das es mir in Dortmund am meisten fehlt und das ich am liebsten mitnehmen würde, dann ist es die Freundlichkeit und das Auf-andere-Zugehen der Menschen hier in Hamburg: Offenherzig, aber unter Wahrung einer angenehmen Distanz, die beide Seiten davor schützt, dass man sich zu nah auf die Pelle rückt. Zugegeben, Hamburg hat auch sein „Digga, was geht“, und Typen wie die Koberer auf dem Kiez und an den Landungsbrücken haben zweifellos eine große „Komm’se her, komm’se ran“-Klappe, die für ihren Job ja unverzichtbar ist. Aber es hat eine andere, freundlichere Qualität als 300 km südlich. Die distanzlose Jovialität dort ist mir zeitlebens fremd und suspekt geblieben.

Inzwischen habe ich Uwe erreicht. Uwe ist ein Schiff, das 1975 in eine Kollision verwickelt war und bei der Bergung auch noch in drei Teile zerbrach. Diese wurden hier bis zum Falkensteiner Ufer geschleppt. Der Bug und der mittlere Teil konnten abgewrackt werden, doch das Heck sollte für die Untersuchung des Falls noch liegen bleiben. Das dauerte fünfzehn Jahre. Bis dahin war es fest in den Uferschlick eingesunken und die die Blankeneser hatten sich so an das Wrack gewöhnt, dass sie es als Denkmal behalten wollten. Sie durften.

Zu Besuch bei „Uwe“…

Es ist schon ein spannender Anblick. Als hätte ein Kind sein Matchbox-Schiffsmodell in einem Wutanfall Bug voran in seinen Sandkasten gepfeffert. Ob die Besatzung des gerade vorbeiziehenden Bulk Carriers einen kleinen Blick für die Uwe übrig hat und sich daran erinnert fühlt, wie gefährlich die Seefahrt sein kann?

Nur wenige Meter weiter finden sich die Überreste eines anderen Wracks. Die Polstjernan liegt sogar noch länger hier als die Uwe. Faszinierend, wie viel von dem ehemaligen Dreimaster noch übrig ist. Einundneunzig Jahre bei Ebbe und Flut allen möglichen Wetterverhältnissen des Nordens ausgesetzt zu sein – da hätte ich gedacht, dass der hölzerne Rumpf längst komplett verschwunden wäre.

… und der „Polstjernan“

Langsam wird mir ja doch ’n büschen kalt am unteren Ende der Beine. Ich gehe zurück zum befestigten Weg und setzte mich auf eine der Treppenstufen dort und verlasse mich auf die Kraft von Mutter Natur.

Na, end…

Nein, diesmal gibt es wirklich keinen Grund zur Ungeduld. Der Wind ist ein großartiges Trockengebläse – es dauert keine fünf Minuten, bis meine Füße trocken sind. Ich klopfe den Sand ab und ziehe mir die Schuhe wieder an. Jetzt werden nämlich wieder Treppen gestiegen. Es sind gar nicht soviel, aber die paar haben es in sich, weil sie steil sind – und genauso schief und ausgelatscht wie an vielen Stellen im Treppenviertel.

Oben noch schnell um eine Ecke rum, und dann stehe ich im Römischen Garten der Familie des Hamburger Bankiers Max Warburg. Die Gärtnerin Else Hoffa hat ihn in den 1910er bis 1930er Jahren errichtet und erhalten, bis sie nach England auswanderte, weil sie im Dritten Reich als Halbjüdin galt. Über das Wirken Else Hoffas bei der Familie Warburg gibt es folgende Anekdote: Ihr Arbeitsvertrag sah eine jährliche Prämie vor, wenn sie es schaffte, jeglichen Ärger von ihrem Dienstherren fernzuhalten.

Am Eingang zum Römischen Garten der Familie Warburg

Ob sie es geschafft hat, sich diese Anerkennung in klingender Münze alljährlich zu verdienen, ist heute nicht mehr zu sehen. Der Garten, inzwischen im Besitz der Stadt Hamburg, hat gelitten. Den am Westende gelegenen Rosengarten gibt es seit dem Krieg nicht mehr, dort wächst jetzt ebenso Gras wie auf der großen Freifläche. Der Seerosenteich ist bis auf die „gesammelten Werke“ (= Regenwasser) der letzten Tage leer.

Die Exedra und der Seerosenteich

Obwohl sie in die Jahre gekommen ist, sieht man der Anlage ihre ursprüngliche elegante Schönheit an. Die weiße Bank in der Exedra des Terrassenbeetes lädt zum Blick auf die Elbe ein.

Elbblick

Auf halber Höhe unter dem Garten ist ein Amphitheater angelegt. Dort wird gerade alles für eine der jährlich stattfindenden Theateraufführungen unter freiem Himmel vorbereitet. Ich drücke die Daumen, dass das Wetter sich dafür hält!

Das Amphitheater

Ich verlasse den Römischen Garten über eine hölzerne Treppe am Ostende und lande über verschlungene Wege wieder auf dem Blankeneser Strandweg. Komisch. Nun bin ich schon so oft hier längs gegangen, aber erst heute muss ich beim Anblick der gelben Ziegel im Trottoir an die Yellow Brick Road aus dem Judy Garland-Film The Wizard of Oz denken.

Geht’s hier zum Zauberer von Oz?

Nach einer Pause auf dem Blankeneser Schiffsanleger gehe ich am Elbufer entlang in Richtung Hirschpark. Der Weg dorthin führt durch das zu Blankenese gehörende Mühlenberg. An einer Stelle könnte man jedoch denken, sich im Karolinen- oder Schanzenviertel zu befinden: An der Grundstücksmauer eines edlen Anwesens findet sich das berühmte Gedicht von Joachim Ringelnatz über die beiden Altonaer Ameisen, die das Fernweh nach Australien gepackt hat, als Graffito.

Von diesen beiden hat gewiss *jeder* schon mal gehört…

Toll finde ich, dass über mehrere Jahre hinweg andere Graffiti rechts und links davon aufgetaucht und wieder verschwunden sind. Nur dieses hier bleibt unangetastet.

Nur wenige hundert Meter dahinter beginnt der Aufstieg zum Hirschpark. Über den nur scheinbar nicht hierher gehörenden Tunnel am Grundstücksende habe ich ebenso schon mal berichtet wie von der Familie, denen das Anwesen einst gehörte. Am oberen Ende des Geesthangs angekommen, gehe ich am Hirschpark vorbei und gelange dann auf die berühmte Allee mit ihren zweireihig gesetzten Linden. Die meisten von ihnen stehen schon über zweihundert Jahre hier. Was haben sie nicht erlebt – die Kunde von der in Hamburg wütenden Cholera-Epidemie ist 1892 hierher gedrungen – ob man hier wohl auch Robert Kochs berühmten Satz von den hygienischen Verhältnissen in Hamburg wiedergegeben hat, als man ihn als Experte hinzuzog? „Ich vergesse, dass ich in Europa bin!“ Viel zu lange hatte der Senat wieder einmal gezögert…

Die Lindenallee

Zwei Weltkriege, Aufstände, Aufstieg und Fall der Familie der Hausherren ebenso wie der von einigen Nachbarn. Wenn diese Bäume reden könnten!

Am Ende der Lindenallee gelangt man schließlich zum ehemaligen Wohnsitz der Godeffroys. Der Anblick ist ein vertrauter, obwohl es mein erster Besuch hier ist. Doch ich nähere mich dem Haus in etwa von der Stelle aus, an der Max Liebermann gestanden haben muss. Ich finde das Gebäude sehr beeindruckend. Obwohl es größenmäßig längst nicht mit anderen berühmten Hamburger Bauwerken wie dem Chilehaus, St. Michaelis oder dem Alsterhaus mithalten kann, wirkt es ungeheuer erhaben und sich seiner Bedeutung bewusst. Es kommt eben nicht auf die Größe an, sondern auf die Haltung!

Das ehemalige Landhaus der Godeffroys. Heute befindet sich hier die Tanzschule Lola Rogge.

Was für ein krönender Abschluss des Morgens. Nach der Mittagspause geht es weiter. Jetzt soll der Magen aber erstmal zu seinem Recht kommen.

Na, endlich!

 

(Fortsetzung folgt)


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