Reisetagebuch Hamburg, Juli 2017 – Teil 6
Auf der Zielgeraden kommt dann doch noch ein bisschen mehr Leben in die Sache…
Donnerstag, 13. Juli 2017 (Fortsetzung)
Vergess’ner Sonnenhut im Gras – Like Ice In The Sunshine – Here Comes The Sun – Guten Morgen, Sonnenschein…
Das ist doch mal was völlig anderes, als ständig Regenlieder aufzuzählen! Vorhin in Blankenese sah es ja doch noch ein bisschen aus, als wollte uns das Wetter noch mal so richtig fi**en (ja, auch ich kann manchmal vollständig die Contenance verlieren), aber zum High Noon hat es sich endgültig für Sonne entschieden.

Das Witthüs auf dem Hirschpark-Anwesen. Früher das Gästehaus der Familie Godeffroy, heute Restaurant.
Was liegt da näher, als die Elbwanderung nach dem Besuch bei Godeffroys erstmal abzubrechen und zur Mittagspause mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren? Denn, es muss gesagt sein, der Mann kommt langsam in das Alter, wo er sich mittags mal ein Stündchen in die Horizontale begeben muss.
Sünde?
Nee. Eben nicht. Meine Aufgabe als Pflegender Angehöriger fordert nun mal ihren Tribut. Klar, durch meinen Sport habe ich mir eine gewisse Fitness angeeignet. Trotzdem: Einen 120-Kilo-Menschen, der „mit Kreislauf“ umgekippt ist, kratze auch ich nicht mal so eben vom Fußboden auf.
Ich will jetzt gar nicht wieder lang darauf rumreiten. Dass ich während der Fahrt von Blankenese in die Stadtmitte überhaupt dieses Thema im Hinterkopf habe, liegt an meinem Gesprächspartner. Während wir auf die S1 aus Wedel warten, frage ich den Vater neben mir, ob er beim Einsteigen gleich Hilfe bräuchte. In dem von ihm geschobenen Rehabuggy sitzt sein ungefähr zwölfjähriger Sohn. Er verneint höflich, der Einstieg wäre ja inzwischen barrierefrei.
Während der guten halben Stunde Zugfahrt schnacken wir weiter. Für Außenstehende hören wir uns wahrscheinlich an wie zwei Senioren im Arztwartezimmer, deren Leben nur noch aus dem Vergleichen der Zuckerwerte besteht und der gar spannenden Frage, ob Rote-Beete-Saft nun wirklich den Blutdruck senkt. Aber es tut einfach gut, sich mit jemandem auszutauschen, der selber ein Lied vom Theater mit Kostenträgern, medikamentösen Nebenwirkungen und falschen Freunden singen kann.
Am Jungfernstieg steige ich aus und esse in der Europapassage einen Salat. Danach geht es ins Hotel, ein Stündchen Matratzenhorchdienst machen. Aber ich kann nur mit offenen Augen daliegen, weil es in mir brummt, als hätte ich einen Liter Espresso auf ex getrunken.
Junge, das hat so keinen Sinn! Draußen ist das Wetter, auf das du die ganze Zeit gewartet hast – und dann liegst du hier und versuchst vergeblich, zu pennen? Sünde?
Diesmal doch.
Also zurück in die S1. Zwischen Othmarschen und Klein-Flottbek verhaspelt sich die Elektronik der automatischen Ansage und verkündet, dass die nächste Station Othbek sei. Die meisten Leute im Zug kriegen das gar nicht mit. Ist ja auch nicht so lustig wie Flottmarschen, das angeblich eine feste Bezeichnung im Volksmund geworden ist, wenn man von beiden Stadtteilen als Einheit spricht. Ich kann mir nicht helfen – für mich hört sich das eher nach einer volkstümlichen Bezeichnung für Durchfall an.
Wenigstens ist das nur eine Verballhornung, auf die man notfalls noch verzichten kann. Orte mit tatsächlich etwas problematischen Namen haben es da deutlich schwerer. Dass der Name der Ortschaft Sprötze für mich nach Ungeziefer („Wir haben die Sprötzen im Keller“) oder nach Schulhofverbalinjurie („Du alte Sprötze, du!“) klingt, ist dabei natürlich einzig und allein meiner überbordenden Phantasie anzulasten. Aber dass in der Lüneburger Gegend Vögelsen nicht all zu weit von Vickenteich entfernt ist… Wer immer diese Ortschaften gegründet hat, konnte nicht ahnen, wie sehr die Menschen viele Generationen später versuchen würden, in wirklich alles ein double entendre zu legen.
In Klein-Flottbek steige ich aus der S-Bahn. Der nur wenige Minuten Fußweg von der Station gelegene Jenischpark gehört mittlerweile zu den Orten, die ich sozusagen als Wiederholungstäter besuche. Ich komme gar nicht darüber hinweg, das hier alles so frei zugänglich ist und man sich auf der großen Wiese mit Elbblick so einfach ausbreiten darf. Egal, ob man einfach quer drüber geht, Frisbee spielt oder sich zum Picknick mit eingebautem Sonnenbad auf einer ausgebreiteten Decke niederlässt – der Jenischpark steht dafür offen.
Heute bin ich übrigens nur „auf der Durchreise“ hier, denn am, unter und im Wasser bin ich dank Elbstrand, Hafenpromenade, Dusche und last but not least Regen schon genug gewesen. Nur auf dem Wasser noch nicht. Sünde?
Naja, es gibt schlimmeres.
Ich gehe also gemächlich, aber zielstrebig zum Fähranleger Teufelsbrück, der gleich am südlichen Ende des Jenischparks liegt. Die Linie 64 verbindet Teufelsbrück mit der Elbinsel Finkenwerder, in der lokalen Abart des Plattdeutschen auch Finkwarder genannt.
Einziger Zwischenhalt auf der Tour nach Finkenwerder ist der Anleger Rüschpark, der in unmittelbarer Nähe zu einem Hotel liegt, das schon von außen ziemlich teuer aussieht.
Auf dem Ponton des Anlegers warten dann auch ungewöhnlich förmlich gekleidete Herren für eine solche Schiffsreise. Schon merkwürdig – in der U-Bahn kommen solche Gestalten im feinen Zwirn uns völlig normal vor. Aber auf der Hafenfähre, die für Hamburg ja nichts anderes als eine schwimmende Hochbahn ist, fallen sie auf wie bunte Hunde.
Keine Fahrt mit dem Linienbus gleicht der anderen: Der eine Fahrer schleicht fast um die scharfen Kurven, der andere geht ran wie Blücher und man fliegt fast vom Sitz. Mit den Kapitänen auf den schwimmenden „Elbbussen“ ist es genau so: Der eine bremst das Schiff rechtzeitig so ab, dass man das Anlegen kaum bemerkt. Sein Kollege aber bumst so heftig dagegen, dass man in der Folge über ein alarmiertes „Mann über Bord!“ kaum überrascht wäre. Der hier liegt irgendwo dazwischen.
Die Liegezeit am Rüschpark ist wie an allen Anlegern nur kurz – die Querstrahlruder drücken die Fähre gegen den Ponton, Gangway runter, Aussteiger raus, Einsteiger rein, Gangway hoch, weiter. Das Ganze dauert zwar mit gut zwei Minuten immer noch länger als ein Halt der U-Bahn, aber für einige den Steg vom Ufer herabeilende Herren Geschäftsleute ist das immer noch zu kurz. Sie können unserem Schiff nur noch hinterher gucken. Das nächste kommt in fünfzehn Minuten, dabei gilt doch gerade bei solchen Gentlemen Time is Money. Sie wirken auch nicht sehr begeistert.
Es wundert mich, dass sie die 64 nehmen – in Finkenwerder müssen sie sowieso auf die 62 umsteigen, um zu den Landungsbrücken zu kommen. Wirklich weit ist der Fußweg vom Hotel zum Anleger Finkenwerder nicht. Andererseits… Aus meiner Zeit in einem großen Telekommunikationskonzern weiß ich, dass Businessmenschen nichts so sehr vereint, wie die Pumps bei den Damen und die schwarzen (bisweilen auch braunen) Lederschuhe der Herren zum Anzug: Sie sind für Fußmärsche auf Straßenpflaster nur bedingt erträglich!
In Finkenwerder steige ich dann selber auf die Linie 62 um, fahre aber nur bis Neumühlen. So oft habe ich es mir schon vorgenommen, ständig habe ich mich dann doch für etwas anderes entschieden. Sünde. Doch diesmal gehe ich wirklich und endlich den Elbhöhenweg – zumindest einen Teil davon. Diese Strecke führt u. a. zwischen Neumühlen und der Köhlbrandtreppe auf etwa halber Höhe des Geesthangs, also quasi zwischen Elbufer und Elbchaussee, durch ehemalige Parkanlagen bekannter Vertreter des hanseatischen Bürgeradels der Stadt. Schon damals haben diese Familien ihre Parks und Gärten teilweise der über so viel Gartenbaukunst staunenden Besuchern zugänglich gemacht. Heute sind diese Anlagen generell öffentlich.
Den ersten Zugang direkt gegenüber vom Anleger verpasse ich, weil ich nicht richtig aufpasse. Na, gut – nehme ich halt den nächsten. Auf zweihundert Meter kommt es wohl nicht an.
Der Rosengarten gehörte ursprünglich der Familie Jenckel, die ihren Namen irgendwann aufgrund ihrer portugiesischen Handelsbeziehungen in die Schreibweise Jencquel geändert hat. Das kam durchaus öfter vor – die Familie O’Swald hieß, bevor die Geschäfte mit Irland richtig gut liefen, auch nur Oswald.
Dass meine Begeisterung für den Rosengarten und den anschließenden Donners Park nur lauwarm ist, liegt wohl ausschließlich an mir. Die ganze Idee mit dem Elbhöhenweg kam mir durch ein Buch, das der Geschichte dieser Gärten und Parks längs der Elbe von Altona bis hinter das Falkensteiner Ufer gewidmet ist. Obwohl immer wieder beschrieben wurde, wie sich die Parks verändert haben, besonders nach dem 2. Weltkrieg, als Wohnungen nun mal wichtiger waren als gepflegtes Grün, halte ich immer wieder Ausschau nach Sehenswürdigkeiten wie dem alten Mühlenteich oder dem Monopteros in Donners Park.
Ischa aber nich da, weil, das gibt dascha nich‘ mehr, nä?
Okay, kleine Anpassung der Erwartungen an die tatsächlichen Gegebenheiten. Als ich das Ganze dann einfach als eine der vielen Grünen Lungen Hamburgs sehe, gefällt es mir am Ende doch. Vor allem die Aussicht!
Solche Mischungen aus tollem Blick, ordentlicher Luft (Eins muss man ja sagen: Es ist wahrlich nicht alles rund gelaufen in den letzten Tagen, aber die Luft Hamburgs zeigt ihre Wirkung – zum ersten Mal seit einem Jahr die Nase frei. In Dortmund ist sie dank der schlechten Ruhrpottluft immer verstopft und ich habe generell Probleme mit den Atemwegen. Was will mir das bloß sagen?) und Nähe zum Wasser sind noch etwas, das ich gerne einpacken und mitnehmen würde. IM LEBEN NICHT! Klamotten ganz packen und im Pott nichts als ’ne Staubwolke hinterlassen wäre viel besser. Aber das ist ’n anderes und sehr langwieriges Projekt.
Richtig begeistert bin ich, als ich den Altonaer Balkon erreiche. Ein großer Treffpunkt mit genialem Panorama für alle möglichen Leute. Wer so ein Balkonien hat, braucht wirklich keine Sommerreise!
Unter einem großen Baum (keine Ahnung, was für einer – ich kann eine Birke nicht von einer Rüster unterscheiden) hat sich eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft ausgebreitet. Wildfremde Passanten werden von jemanden, in dem ich den stolzen Brautvater vermute, „auf ein Glas“ in die Feier eingebunden. Den Sekt pur lehne ich höflich ab, aber die Kalte Ente nehme ich gerne an. Artig liefere ich dem glücklichen Paar meine Glückwünsche ab, stoße mit ihnen an, klönschnacke ein paar Minuten mit mir wildfremden Menschen über Liebe und Glück und verabschiede mich dann. Sowas mag ich!
Es geht vorbei an dem stattlichen weißen Bau der ehemaligen Seefahrtschule und weiteren schönen An- und Aussichten, bis ich schließlich an der Köhlbrandtreppe wieder runter zum Elbufer gehe.
Irgendwann lande ich dann auch wieder an den Landungsbrücken. Schnell beim nächsten Bäcker ein Käsebrötchen als Abendessen auf die Hand besorgt und dann an Bord der 62. Jetzt will ich noch einmal die komplette Tour nach Finkenwerder und zurück machen.
Man merkt, dass Donnerstag ist. Die Fähre ist hauptsächlich mit Pendlern gefüllt. Die Touristen reiten erst morgen wieder ein. Die Fahrt ist dadurch angenehm ruhig und wir nur in dem Moment höchst geringfügig aufregend, als der Kapitän über seine Sprechanlage einen Fahrradfahrer zurechtweist, der mit seinem Gefährt nicht wie vorgesehen umgeht. „Wenn Ihr Bewegungsdrang so unbezwingbar ist, melden Sie sich zur Tour de France an!“
Der Regen der letzten Tage hat mir manchmal ganz schön auf die Stimmung gedrückt. Das ging sogar soweit, dass ich mich stellenweise gefragt habe, ob ich nicht nur ein Fair Weather Lover bin. So heißt ein altes Lied von Connie Francis, das auf irgendeiner ihrer über fünfzig LPs aus den 50ern/60ern versteckt ist – Schönwetterliebhaber: „Als alles sonnig war, bist du bei mir gewesen. Bei Regen hast du mich verlassen.“
Was für ein Blödsinn! Natürlich war das nur der Ärger über einen ziemlich verregneten Urlaub, von dem ich genau so übermannt worden wäre, als hätte die Zeit in Rimini, Oslo oder im australischen Outback verbracht.
Mir kommt ein Rat meiner Großmutter in den Kopf, den sie mir gab, als ich mich das erste Mal mit meiner ersten Liebe so richtig in der Wolle hatte und ihr mein Herz ausschüttete. Sie war großartig, denn es machte für sie überhaupt keinen Unterschied, dass es hier um zwei Männer ging. Sie sagte: „Warte ab, bis er das erste Mal so richtig erkältet ist. Wenn Männer Schnupfen haben, sind sie unerträglich. Da werden sie alle vom Helden zur Nervensäge, der du am liebsten mit ihrem eigenen Halswickel erwürgen willst. Wenn du das überstanden hast ohne die Flucht zu ergreifen und dann immer noch bei ihm bleiben willst, dann ist er der Richtige für dich.“ Nach fast 19 1/2 Jahren sind wir immer noch zusammen (Falls jemand wissen möchte, welche meiner Kurzgeschichten auf wahren Begebenheiten beruht: Voilà – es kann hier nachgelesen werden).
Dieses Jahr hat Hamburg eben seinen „Schnupfen“ gehabt. Und ich bin geblieben. Sünde?
Nee, die Tasse, die ich mir heute noch zwischendurch gekauft habe, trifft sowohl als auf Hamburg als auch auf meinen Mann zu:
(Fortsetzung folgt)
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