Man vergisst ja so schnell… Gestern morgen war ich richtig irritiert, als ab etwa zehn nach sieben der morgendliche Geräuschpegel in der Nachbarschaft erheblich anschwoll. Ein Geschreie, ein Gejohle, ein Gerenne von etwas, das sich wie hunderttausend Schuhe mit Schmirgelpapier unter den Sohlen anhörte.
Morgenmuffelig, wie ich nun mal bin, schwankte ich mit zu 3/4 geschlossenen Augen zum Schlafzimmerfenster, machte es dicht und wankte dann in die Küche. Ohne ausreichenden Koffeinspiegel im Blut ist man ja nur ein halber Mensch!
Mit dem ersten Kaffee in der Hand setzte ich mich auf den Balkon und vergaß den Radau erstmal wieder. Ein paar Stunden später, beim täglichen Telefonat mit meiner Schwester, fiel’s mir wieder ein und der Schleier der Verwirrung lüftete sich. Natürlich! Die Schule hatte wieder begonnen. Obwohl ich das Gebäude gegenüber unseres Hauses jeden Tag mehrmals vor Augen habe, war mir in den vergangenen sechseinhalb Wochen völlig entfallen, welchem Zweck es überhaupt dient. Das einzige, was in den letzten Tagen für etwas mehr Gedrubbel gesorgt hat, waren die Vorbereitungen für das alljährliche Straßenfest, dieses Festival der wohlverdienenden Gentrifizierer, die in der ihnen eigenen Un-Logik den ganzen Zisslaweng wieder mal stattfinden lassen, wie es am ungünstigsten ist. Drei Tage nach Schulbeginn die Parkstreifen sperren, wenn sie wieder am dringendsten benötigt werden… Heilige Einfalt!
Gestern lief der Schulbetrieb erstmal auf Sparflamme: Nur die Zweit- bis Viertklässler haben ihren Weisheitstempel wieder in Beschlag genommen, die I-Männchen kommen traditionell einen Tag später.
Ich mag I-Männchen – sie sind noch so enthusiastisch. Endlich Schule! Endlich bei den großen Kindern! Naturgemäß legt sich das dann irgendwann wieder und eigentlich merkt man erst beim ersten Klassentreffen wieder, wie schön die Schulzeit doch eigentlich ist.
Apropos: Einer der hoffnungsvollen neuen Bildungsbürger in unserem Quartier hatte wohl gestern keine Lust, bis zum heutigen Tag zu warten. Er begleitete heute seine Eltern, die ihre zwei ältesten Töchter, ein Zwillingspaar und vermutlich Drittklässler, nach den ersten Stunden des neuen Jahres von der Schule abholten.
Soweit so normal.
Interessant wurde es erst, als man zur Heimfahrt in der Familienkutsche schreiten wollte. Die Thronfolgerinnen Marie-Clarabelle und Annelie-Joline wollen gemäß den Gesetzen der Primogenitur ihre Plätze an den Fenstern einnehmen, die eine wie immer hinter Papa, die andere wie immer hinter Mama. Damit ist der Nesthaken Max (wahrscheinlich war bei ihm für einen ausgefalleneren Namen kein Geld mehr da…)* nun überhaupt nicht einverstanden. Er begehrt lautstark die Berücksichtigung seiner neu gewonnenen Würde als ebenfalls die Schule besuchender Nachkomme und begehrt, endlich einmal nicht auf dem ungeliebten Platz in der Mitte sitzen zu müssen. Die beiden Damen in dem Geschwisterreigen sind natürlich darauf bedacht, sich ihre angestammten Plätze in der Benzinsänfte nicht streitig machen zu lassen.
Lautstarker Wortwechsel, die einen bevorstehenden Besuch im Zoo suggerieren, denn es fallen wiederholt Vokabeln wie „Ziege“, „Kamel“ und „Kuh“.
Der Vater versucht, den Konflikt mit bilateralen Verhandlungen beizulegen, d. h. er versucht es mit einer eher hilflos wirkenden Bestechung: Er stellt im Austausch gegen sofortigen Familienfrieden die Einnahme des gemeinsamen Mittagsmahls bei einem bekannten amerikansichen Schnellimbiss in Aussicht, für den Kinder ja bekanntlich eine unerklärliche Vorliebe haben. Doch dieser Versuch scheitert.
Die Verbalinjurien fliegen noch eine ganze Weile hin und her, bis schließlich die Frau Mama einschreitet: Resolut „nominiert“ sie ihre drei Ableger für die zu vergebenden Sitzplätze, was dazu führt, dass am Ende gar keiner auf dem von ihm begehrten Platz sitzt. Die Folge: Verbiesterte Mienen bei allen fünf. Der Vorhang fällt bzw. das Auto fährt davon.
Merke: Schaffe dir nie mehr Kinder an, als dein Auto Seitenfenster hat!
* Die Namen in diesem Text sind Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen wäre rein zufällig
Hinweis: Die Titelgraphik dieses Beitrags stammt aus dem Pool frei verwendbarer Bilder von Pixabay und befindet sich unter dem Vermerk CC0 der Creative Commons in der Public Domain.