„Guten Morgen, der Herr! Ich sehe, Sie sind Brillenträger! Darf ich Sie vielleicht mit unserem neuen Brillenreiniger Glotzenglanz bekannt machen?“
Eigentlich sollte ich stumm vorbeigehen, aber die preußische Erziehung verbietet das. Also grüße ich, lehne höflich dankend ab und stelle mich auf das Unvermeidliche ein: Prompt prasselt ein Schwall wohlgedrechselter und perfekt auswendig gelernter Phrasen auf mich ein, mit denen der Propagandist (ich weiß, dieser Job trägt heute einen klangvolleren, wichtigeren und natürlich englischen Namen, vermutlich sowas wie „Crap-That-Nobody-Needs Sales Manager“, aber ich habe nun mal ein Faible für diese altmodischen Vokabeln) mich davon zu überzeugen versucht, dass nur sein Produkt meine Brille sauber hält.
Ich bedanke mich für die Information, lehne noch einmal dankend ab und will weitergehen. Doch dieser Mr. Brillenrein denkt gar nicht daran, mich in Ruhe zu lassen, versucht sogar, mich am Arm festzuhalten. Da werde ich doch langsam füünsch:
„Hören Sie: Ich bin vierundvierzig Jahre alt, das heißt, ich habe in diesem Jahr mein vierzigstes Jubiläum als Brillenträger. Vier Jahrzehnte haben klares Wasser und ein weiches, fusselfreies Tuch gereicht. Warum sollte ich mir jetzt mit Duftstoffen versetzten Alkohol da drauf klatschen? Schönen Tag noch!“
Ich gehe, er bleibt mit eingefrorener Miene zurück. Auch der Vertreter irgendeines Anbieters für Kabelfernsehen schaut ziemlich entgeistert, als ich ihm bei einer kleinen, durchaus nicht unangenehmen Plauderei sage, dass ich ich pro Woche nur auf insgesamt 60 Minuten TV komme, die sich auch noch auf zwei Sendungen verteilen, nämlich diese eine und diese andere, selbige obendrein nur von Oktober bis Februar laufen und ich darüber hinaus keinen Fernseher brauche. Eine Woche hat 168 Stunden. 167 davon setzt der Kasten bei mir nur Staub an, bis auf ein, zwei Abende pro Jahr, an denen ich mir vielleicht eine DVD ansehe.
„Ja, schauen Sie denn keinen Fußball?“
Ich versichere ihm, dass mein Wunsch, Fußball zu schauen, noch weit hinter dem liegt, mir durch einen mittelalterlichen Kerkermeister die Zehennägel ziehen zu lassen.
Aber diese Zeitgenossen und ihrer Kollegen gehören nun mal in die Welt Konsums, und man muss ganzjährig damit rechnen, in den Tempeln des gepflegten Geldverprassens von ihnen angesprochen zu werden. Man ist dran gewöhnt und mit manchen entspinnt sich sogar eine unterhaltsame kleine Plauderei.
Andere dieser modernen Wegelagerer sind dagegen wie Dominosteine, Lebkuchenhäuser und Schokonikoläuse: Sie tauchen erst ab Ende September auf und sind Ende Dezember meist schon wieder verschwunden. Ich meine die Aktionsstände von Umwelts- und Wohlfahrtsorganisationen samt Personal.
Damit wir uns nicht falsch verstehen – ich finde das, was diese Einrichtungen machen, gut und wichtig: Informieren, ein Bewusstsein für die Baustellen dieser Welt schaffen und darüber hinaus Mitglieder werben; aktive und vor allem passive, die sich in der Hauptsache durch finanzielle Zuwendungen einbringen.
Bloß diese Ballung im letzten Quartal eines Jahres will sich mir nicht erschließen. Letzte Woche bin ich in einem Nebenarm der Fußgängerzone auf 50 Metern von den Vertretern dreier verschiedenen Organisationen aufgehalten worden. Ist das nicht ein bisschen zuviel des Guten?
Zum einen könnte ich mir vorstellen, dass die Organisationen sich bei so geballter Präsenz auf so kleinem Raum gegenseitig das Wasser abgraben. Es kommt mir nur wenig wahrscheinlich vor, dass ein Passant, der sich an Stand A noch zumindest auf ein Gespräch eingelassen hat, sich an Stand B und C erneut die zehn Minuten Zeit nimmt, geschweige denn die Beitrittserklärung als zahlendes Mitglied unterschreibt. Es ist Spätherbst bwz. Winter. Das Wetter ist schietig. Die Leute sind im Jahresenddruck: Weihnachtsgeschenke kaufen (dieses Budget will schließlich auch gestemmt werden), das Projekt mit Deadline 31.12. fertigbekommen, die nicht gerade kleine Gesamtsumme für die im Januar fälligen Steuern und Versicherungsbeiträge zusammenbekommen. Sie wollen rasch nach Hause/ins Büro/zum wöchentlichen Pflichtbesuch bei Erbtante Mildred – was auch immer.
Außerdem finde ich die Außenwirkung ein bisschen unglücklich. Das ganze Jahr über sieht man so gut wie niemanden, zu Weihnachten wuseln sie dann wie tausende Kaulquappen gleichzeitig rum. So als würde unsere Hilfe in den neun Monaten vorher nicht gebraucht. Und dann sollen wir in zwölf Wochen das ausgleichen, was in den vierzig Wochen zuvor versäumt wurde.
Und dann wundern die sich nicht nur, wenn man „Nein“ sagt, sie ändern obendrein ihre Masche, die dann fatal an die berühmte Frage erinnert, die deroeinst bei Wehrdienstverweigern gestellt wurde: „Angenommen, Sie sind mit Ihrer Familie unterwegs, werden überfallen und jemand will ihre Mutter umbringen. Würden Sie sie dann nicht auch mit Gewalt verteidigen wollen?“. Das wird dann dem entsprechenden Zweck angepasst, z. B. bei der letzten Aktion gegen das Bienensterben: „Denken Sie nur mal an die Bienen, die Ihr Brot bestäuben.“
Eine solche grammatikalische wie rhetorische Fehlleistung ist eine Steilvorlage, die nicht ungenutzt bleiben darf, zumal ich auf diese viegelinsche Masche so gar nicht kann: „Ich kann meinen frischen Brotlaib schon ganz gut selbst mit Mehl bestäuben, bevor ich ihn in den Ofen schiebe, da brauche ich keine Bienen für.“ – „Ey, was soll’n das jetzt?“
Selber Schuld.
Jetzt aber wieder ganz im Ernst: Vielleicht ist es im Sommer ein bisschen schwieriger, neue zahlende Mitglieder zu werben, weil deren Herz dann vielleicht nicht per se so weit für Mildtätigkeit geöffnet ist wie im Geist der Weihnacht. Vielleicht ist auch der im Formular eingesetzte monatliche Spendenbetrag etwas geringer. Aber ist er dadurch weniger willkommen? Und sollte man sich deshalb weniger bemühen?
Wer es wirklich ernst meint mit seinem Engagement für Soziales und Umwelt, der setzt seine Unterschriften auf die Beitrittserklärung und vor allem den Dauerauftrag nicht nur bei Nieselregen in der Vorweihnachtszeit, sondern auch bei 30° C im Schatten!
Also, liebe Wohltätigkeitsorganisationen – wie wär’s? Sehen wir uns nächstes Jahr auch mal in der Woche nach Ostern? Oder gar am ersten Tag der Sommerferien? Wär‘ doch nicht schlecht.
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