Einmal werden wir noch wach…

… und dann gibt’s das nächste Mal Frühstück.

Nein, zum Rezitieren über an ganzen Generationen erprobter Weihnachtslieder und/oder -gedichte bin ich wirklich nicht geeignet. Ich mag das einfach nicht. Letztes Jahr habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, ein Spiel aus einer meiner Lieblingssendungen nachzuspielen. Es nennt sich „One song to the tune of another“, man soll also den Text eines Liedes X auf die Melodie eines anderen Liedes Y singen. Hat rein technisch bestens geklappt. Nur hört sich das Lieblingskarnevalslied meines Mannes gesungen auf die Melodie von Stille Nacht, heilige Nacht eher wie ein Totenmarsch an.

Ist also nicht so wirklich meins, diese weihnachtliche Reimerei. Aber ich glaube, ich kann ganz gut den ein oder anderen Schwank aus meiner Jugend und anderen Epochen meiner Vergangenheit wiedergeben. Und da wir hier gerade so nett das letzte Mal vor Weihnachten beisammen sind, will ich einfach mal loslegen:

 

Ho-ho-*hicks*

Der Ort: Bi uns op’n Dörp (Bei uns auf’m Dorf)

Die Zeit: Der 1. Weihnachtsfeiertag vor einer ganzen Reihe von Jahren

Teufel noch eins, war ich nervös. Nervöser nach als vor dem ersten Mal… Küssen. Das war übrigens gerade knapp sieben Monate hier. Eine Sommerliebelei, hatte ich da gedacht und mich für ganz besonders realistisch gehalten. Pustekuchen! Immer wenn man meint, sich einer Sache sicher zu sein, fällt das Schicksal lachend vom Stuhl. Jetzt feierten mein erster Freund und ich also zum ersten Mal gemeinsam den Heiligabend. Am ersten Weihnachtsfeiertag fuhren wir dann von seiner Wohnung in der Großstadt, raus aufs Land. Dorthin, wo ich aufgewachsen bin. Der erste Feiertag gehörte schon seit jeher meinen Großeltern mütterlicherseits. Seit mein Großvater vom schmucken Häuschen in eine kleine Urne umgezogen war, besuchten wir an diesem Tag nur noch Oma.

Meinen Großeltern zu sagen, dass ich aus bestimmten Gründen Urenkel schuldig bleiben müsse, war vor fünf Jahren nicht ganz einfach gewesen. Aber Oma war jemand, die einfach nur gut über die Veränderungen seit ihrer eigenen ersten Verliebtheit aufgeklärt werden musste, es musste sozusagen ein Update gemacht werden. Darum hatte sie von Anfang kein Problem mit meinem Freund.

Trotzdem war ich nervös.

Der Feiertag begann wie immer. Das war tröstlich, denn die festgelegte Struktur war so etwas wie ein Ariadnefaden, an dem man sich durch die Stunden hangeln konnte. Und die waren wie eh und je durchgetaktet – Preußen lässt grüßen!

Um Punkt zwölf Uhr gab es Mittagessen: Vorsuppe – Sauerbraten mit Rotkohl und Klößen – Eis von der Fürst-Pückler-Rolle

Um Punkt drei gab es Kaffee: Marmorkuchen und Torte.

Um Punkt achtzehn Uhr gab es Abendessen: Heiße Würstchen, für die Fischliebhaber eine schöne fette Räuchermakrele, dazu Kartoffel- und Nudelsalat.

Ein Schweizer Uhrmacher hätte seine helle Freunde an uns gehabt.

Zwischen Kaffee und Abendessen gab es für meinen alten Herren und in den Jahren davor auch für unseren Großvater die große Fernsehstunde. Meist wurde eine von diesen schrecklichen Karl May-Schmonzetten gesehen, seltener ein alter Piratenfilm. Der Rest von uns spielte Karten, wobei wir alle wussten, wie das ausging. Ein Glück, dass wir nur 31 (anderenorts auch Knack genannt) und mit Streichhölzern als Einsatz spielten. Wäre es echtes Poker mit echten Einsätzen gewesen… o-haue-haue-haue-ha! Unsere Oma hätte sogar Profispieler wie Victoria Coren Mitchell alt aussehen lassen! Wir spielten trotzdem jedesmal auf Teufel-komm-raus, denn es machte einen Riesenspaß – und zu Opas Lebzeiten ersparte es uns nach dem Ende des Films (s. o.) das Abspielen der Weihnachts-LP von Roy Black, die nur er leiden konnte.

Auch in diesem Jahr plätscherte also nach erprobtem Ablauf dahin. Einziger Unterschied: Diesmal blieb die Glotze für unseren alten Herren aus, denn auf einmal fiel etwas mit einem Lauten knall zu Boden. Mein Hund Sammy hatte solange an der halb von einem Stuhl herab hängenden Langlaufleine gezogen, bis sie mitsamt der Spule hinunter gefallen war. Ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass er an der frischen Luft zu lustwandeln wünschte. Um seinem Bedürfnis weiteren Nachdruck zu verleihen, sprang er nun an dem Sessel hoch, in dem mein Vater saß, und leckte ihm hingebungsvoll die Ohren. Mein alter Herr mochte es gar nicht, wenn die Dinge sich so dynamisch entwickelten, außerdem war es verteufelt kalt draußen. Aber der kleine Hund intensivierte seine Bemühungen so lange, bis er sein Ziel erreicht hatte.

Wir anderen holten derweil die Karten raus. Da dies als gemütlicher Teil der Veranstaltung galt, durften jetzt auch die höherprozentigen Getränke auf den Tisch. Bei Oma bedeutete das für gewöhnlich eine Flasche von ihrem Hauswein: Ein Rotwein, so entsetzlich schwer, dass er beim Eingießen langsam und unter Hinterlassung langer Schlieren ins Glas floss. Ich hatte einmal von diesem Wein getrunken und danach den entsetzlichsten Kater meines noch zugegebenermaßen recht jungen Lebens gehabt und wusste genau, warum ich heute lieber bei Kaffee blieb! Mein Freund hatte in den letzten Wochen und Monaten zwar mehrmals bekundet, meine Familie einfach toll zu finden, aber er kannte unsere kleinen und größeren Schrullen noch nicht ausreichend genug. Folglich wollte er es sich mit Oma, die er natürlich mit Frau E. ansprach und siezte, nicht verscherzen. Also ließ er sich willig von dem Zeug einschütten.

Erster großer Fehler.

Denn Oma goss nach.

Und nochmal.

Und nochmal.

Bis die beiden die Flasche alleine geleert hatten.

„Halb so wild! Von dem merkt man ja gar nichts!“

Nee, tut man auch wirklich nicht, wenn man einfach nur stundenlang rumsitzt und ein bisschen Karten zockt!

Das öffnen einer zweiten Flasche lehnte mein Freund dann höflich, aber bestimmt ab.

Zweiter Fehler.

Denn jetzt holte Oma das Blaue Wunder. Unter diesem Namen hatte sie einen äußerst raffinierten Likör angesetzt: Der Inhalt einer Flasche Kornschnaps (Marke egal, Hauptsache ordentlich Umdrehungen) und zweier Tüten Hustenbonbons (richtige Marke unerlässlich) wurden miteinander gemischt, für eine Woche stehen gelassen, und sobald sich die Bonbons aufgelöst hatten, wurde das ganze ordentlich nochmal ordentlich durchgeschüttelt und eisgekühlt serviert. Wie jeden Schnaps kippt man auch das Blaue Wunder in einem Zug herunter, was beim Novizen zur Folge hat, dass die Augen tränen und man sich fühlt, als wäre der gesamte Kopf eine einzige riesige Nasennebenhöhle. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich hatte das Zeug natürlich auch schon einmal vorgesetzt bekommen und danach geschworen, es niemals wieder anzurühren!

Erfahrene Genießer attestieren dem Blauen Wunder hingegen eine Trinkbarkeit wie Wasser, was wohl daran liegen mag, dass man vor lauter Menthol, Eukalyptus und Minze gar nicht mitbekommt, dass man eigentlich nichts anderes als schieren Korn trinkt. Darum ist es auch ausdrücklich nicht zur Nachahmung empfohlen!

Mein Freund ignorierte sowohl meine vorsichtigen Fußtritte unter dem Tisch als auch mein gewispertes „Pass bloß auf“, wodurch er weiter und weiter in die Falle tappte. Denn zwischendurch servierte Oma natürlich auch das ein oder andere Bierchen.

Nun war Oma wahrlich niemand, für den geistreiche Getränke zum täglichen Leben gehörten. Aber sie war durch Kriegs- und Nachkriegsjahre hinreichend in der Philosophie geschult, die Feste zu feiern wie sie fallen. Außerdem hatte sie sich vor der Rente jahrzehntelang beruflich als Kommandantin von fast ausschließlich männlichen Taxifahrern durchgesetzt und konnte einiges vertragen.

Folglich pichelten sie gemeinsam. Mein Freund, ein Jungspund von achtundzwanzig Jahren bekam gar nicht mit, dass Oma, eine rüstige Frau von fast fünfundsiebzig Jahren, bei dieser fröhlichen Zecherei nicht nur mithielt, ihn regelrecht unter den Tisch soff.

Ich merkte es übrigens auch nicht. Denn keiner von ihnen wirkte auch nur annähernd angetrunken. Auch beim Abendessen gab es Geist aus der Flasche. Immer noch funktionierte die sekundengenaue Taktung des Tages hervorragend, denn wie üblich wurde die Runde genau eine halbe Stunde vor der Tagesschau aufgelöst.

Meine Schwester fuhr mit ihrem Verlobten in dessen Wohnung, meine Eltern drehten noch eine Runde mit Sammy. Ich half Oma noch kurz beim Abräumen – Hilfe beim Spülen verbat sie sich. Dann gingen auch mein Freund und ich. Ich war auch langsam ganz froh, denn fast acht Stunden in dieser mit sechsundzwanzig Grad (Oma fror immer sehr leicht) völlig überheizten Bude hatten doch an meiner Kondition gezehrt.

Wir traten in die kalte Abendluft hinaus.

„Tut das gut!“ Mein Freund tat einen tiiiiiiieeeeefen Atemzug.

Dritter großer Fehler.

Und mit Abstand der größte.

Denn jetzt kickte der Alkohol endlich (???) so richtig rein. Auf einmal hatte ich eine sturzbesoffene Schnapsleiche am Arm, die keinen Schritt mehr gerade gehen konnte.

Zu meinem Elternhaus ist es ein Weg von nur drei Minuten. Diesmal brauchten wir über dreißig. Mein Freund wollte mitten auf der Straße tanzen, er setzte sich vor dem Schaufenster eines Geschäftes auf den Bürgersteig und wollte sich das Ohnsorg-Theaterstück anschauen. Und er sang. Nicht, wie es dem Tag angemessen wäre, eine anmutige Weihnachtsweise. Nein es war Ringel, Ringel, Rose mit der schönen Zeile „Übermorgen Lämmchen schlachten, das soll sagen MÄH“…

Kinners, ich sag’s euch: In dem Moment hätte ich am liebsten ihn geschlachtet. War mir das peinlich! Normalerweise ist es mir egal, was die Leute von mir denken. Aber hier legte er einfach eine Schüppe zuviel auf!

Endlich waren wir zuhause. Und da verfluchte ich zum ersten Mal meine Eltern für ihre verdammte Gastfreundschaft. Es war nämlich so, dass unsere Freunde meine Schwester und mich um unsere Eltern beneideten. Bei uns brauchte niemand zu warten, bis die Hausleitung gnädig geruhte, etwas anzubieten. Gute Freunde besaßen Hausrecht, G’schpusis (herzlicher Gruß an die Leser in Bayern!) erst recht. Der letzte Freund meiner Schwester hatte mal bei einem Abend auf dem Balkon kurz vor Mitternacht gesagt: „Ich hätte irgendwie noch Bock auf ’ne Pommes.“ Worauf meine Mutter ohne mit der Wimper zu zucken gesagt hatte: „Dann mach dir doch einfach welche. Du weißt doch, wo die Tiefkühltruhe und die Fritteuse sind.“ Das gab’s woanders nicht.

Und so ging auch mein Freund jetzt mit der schönsten Selbstverständlichkeit an den Kühlschrank und nahm sich ein Bier raus!

Ich ahnte Böses. Zu recht. Es dauerte lange, bis ich meinen Freund in mein im Dachgeschoss liegendes Zimmer verfrachtet, ausgezogen und im Bett drapiert hatte. Zu Vorsicht stellte ich auf beide Seiten Eimer hin. Dann ging ich wieder runter, machte es mir auf dem Wohnzimmersofa bequem und hatte statt meines Freundes irgendwann Sammy neben mir liegen…

Am nächsten Tag dauerte es lange… sehr lange, bis ich  meinen Freund zu sehen bekam. Es war schon nach vierzehn Uhr, als ich mal den Weg in die höher gelegenen Regionen unseres Haus wagte. Vorsichtshalber hatte ich etwas gegen den zweifelsohne zu erwartenden Kater dabei: Zwei Aspirin und ein aus Orangensaft, Olivenöl, Tiefkühlerbsen, Tomatensaft, zwei Tropfen Blue Curaçao, Cayennepfeffer, Fencheltee und Petersilie bestehendes Gebräu. Es hilft zwar nicht, sieht aber zumindest farblich nett aus, wenn’s wieder rauskommt.

Auf der Treppe schlug mir mit jedem weiteren Schritt nach oben ein immer intensiverer Geruch entgegen, der mich automatisch an eine Hafenkneipe der übelsten Sorte denken ließ.

Nicht ganz unberechtigt, wie sich herausstellte, doch über die Details decke ich gnädig den Mantel des Schweigens. Ich sage nur, dass ich vor Entsetzen ganz sprachlos war, und das will bei einer Sabbeltüte wie mir wirklich was heißen!

Was hatte Oma noch gestern nach dem was-weiß-ich-wievielten Blauen Wunder gemacht? Natürlich! Sie hatte ihn in die Seite geknufft und gesagt: „So, und jetzt hör mal mit dem ollen Sie auf. Sag Oma zu mir wie die anderen auch.“

Er hatte es also geschafft. Wie auch der Verlobte meiner Schwester (und ebenso der Pommes-Freund davor). Und diverse Freunde, die wir und auch meine Eltern über die Jahre mit zu Oma gebracht hatten. Wer sich ihr einen angetüddert hatte, der gehörte offiziell dazu!

Nur – wollte ich das nach diesem Auftritt noch?

Nun, ja… Nächstes Jahr im Mai haben wir Porzellanjubiläum, also unser Zwanzigjähriges. Denn man muss es auch mal so sehen: Wer ein solchen Abend mit unserer Oma übersteht, der übersteht alles!

 

Und damit ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr für alle Freunde und Leser des Wortgepüttscher. Wir lesen uns in 2018 wieder!

Ho! Ho! Ho!