Männer in der Mauser und ein Besuch bei Meta

Selbst der betriebsamste Bahnhof hat Zeiten, in denen er einsame Tristesse ausstrahlt. Zum Beispiel am Sonntagmorgen um Viertel nach sieben. Die große Halle ist bis auf ein paar letzte Nachtschwärmer leergefegt, oben an den Bahnsteigen stehen deutlich weniger Züge. Die paar, die doch auf ihre Abfahrt warten, wirken wie unsereins am Montagmorgen: Muffelig, verschlafen – am liebsten hätten sie sich nochmal umgedreht und unterm kuscheligen „Plümmo“ eingemummelt.

Obwohl es heute zu einem ganz besonderen Termin, den mir ein ganz besonderer Freund möglich gemacht hat (und dem ich dafür gar nicht genug danken kann), nach Hamburg geht, fühle ich mich ein wenig so, wie diese Züge aussehen. Dabei bin ich gestern schon um acht in den Buntkarierten gewesen. Trotzdem war die Nacht zu kurz. Und ein bisschen sind wohl auch die Medikamente schuld, die ich seit einiger Zeit nehmen muss. Aber machen wir uns nix vor: Ohne die könnte ich gar nicht erst fahren. Also lieber ein bisschen müde statt ganz zuhause bleiben zu müssen!

Die Fahrt mit dem 7:25 ab Gleis acht beginnt bei dem, was man schon fast als strahlenden Sonnenschein bezeichnen könnte. Der Tunnel kurz vor Osnabrück erweist sich allerdings als Wettergrenze. Dahinter beginnt nicht vorhergesagter Schneefall.

F – U – C – K !

Sorry, aber auch ich kann bisweilen so richtig schön die Contenance verlieren. Denn  ich trage nur Chucks, und die Schuhe im Koffer eignen sich auch nur für abendliches Promenieren. Außerdem: Bei aller Liebe zum Norden und seinen im Gegensatz zu exotischen Destinationen wie Casablanca oder Curaçao stehenden Temperaturen kommt Schnee bei mir direkt an zweiter Stelle hinter meiner Nummer 1 der meistverabscheuten Dinge. Aber die Fahrt verläuft so unspektakulär, dass ich mich schon lange an den leichten… wie soll ich sagen… „Nieselschnee“ gewöhnt habe, als der Zug die letzten Meter über die Elbbrücken in den Hamburger Hauptbahnhof rollt. Nachdem ich meinen Koffer eingeschlossen habe und zum Bahnsteig der S1 gehe, hat es ganz aufgehört zu schneien.

Nach meinem kleinen Ankommensritual, das u. a. natürlich auch ein frisches Franzbrötchen beinhaltet, heißt es: Der Hafen ruft! Das macht er immer, sobald ich in der Stadt bin, doch heute gilt vor allem: Der Hafen ist lausig kalt! Ich bin schon so lange nicht mehr im Winter hier gewesen, dass ich es schlichtweg vergessen hatte. Sei es weise Voraussicht, eine vage Erinnerung in den hintersten Hirnwindungen oder eine sonstige Form der bewussten oder unbewussten Inspiration – ich bin auf jeden Fall vorbereitet und dick eingemummelt. Ich trage sogar eine Mütze, und das will bei mir was heißen! Ich kann so eine Hohlraumversiegelung enge Verpackung meiner Gedächtnishalle nämlich nicht ausstehen. Nach spätestens fünf Minuten habe ich immer das Gefühl, den Schädel mitten in einen Ameisenhügel gesteckt zu haben, der mit Brennnesseln ausgekleidet ist!

Heute allerdings bin ich dankbar dafür. Trotzdem ist mir immer noch kalt. Es heißt doch immer, Mutter Natur bildet alles zurück, was sie nicht mehr braucht. Warum laufen wir Menschen dann eigentlich – zumindest im Winter – ohne Fell rum? Okay, als Mann hat man ja bisweilen noch gute Karten, im Winter mit Wolle aus Eigenproduktion rumzulaufen – umso unverständlicher finde ich jene Kerls, die sich komplett glatt rasieren. So’n Winterfell würde ja auch mal auf interessante Weise den Fokus unserer Selbstbetrachtung verändern: Statt uns bei der Weihnachtsschlemmerei verrückt zu machen, ob wir uns sieben Monate später guten Gewissens am Strand blicken lassen können, würden wir nun beim Sprießen der ersten Weidenkätzchen ganz hiddelich werden, ob unsere Mauser auch pünktlich einsetzt!

Ich schweife mal wieder ab.

Der Rest des Nachmittages verläuft jedenfalls ziemlich unspektakulär. Nur nicht zu sehr verausgaben, denn es steht noch ein ganz besonderes Rendezvous an. Mit einer Frau. Ihren Namen habt ihr bestimmt schon mal gehört. Sie heißt Meta Boldt.

Um Punkt 19:00 Uhr stehe ich erstmal neben Heidi Kabel. Also, neben der nach ihrem Vorbild erstellten Statue auf dem Heidi-Kabel-Platz, nur einen Steinwurf vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Nach einem höchst erfolgreichen Lauf als Eröffnungsstück für die Theatersaison 2015/2016 ist nämlich noch einmal der Ohnsorg-Klassiker schlechthin für fünf Tage ins Bieberhaus zurückgekehrt: Tratsch op de Trepp – natürlich im plattdeutschen Original! Heute ist die Dernière dieser kurzen Wiederaufnahme, es wird also ein besonderer Abend.

Ich bin wirklich gerne im Ohnsorg Theater. Nicht nur wegen der gelegentlich erneut ins Programm genommenen Klassiker wie etwa Op Düwels Schuvkarr (Verteufelte Zeiten) in der letzten Saison. Auch nicht nur wegen der spannenden neuen Stücke, z. B. Dat Narrenhus (La Cage aux Folles), Lengen na Leev (Ein Mond für die Beladenen), Endlich alleen (Alone Together) oder Misery. Es ist die familiäre und gleichzeitig bunte Atmosphäre. Das Vorurteil, ein Besuch im Ohnsorg sei nur etwas für gesetzte Herrschaften im Rentenalter, kann ich wirklich nicht bestätigen. Die jüngste Besucherin an diesem Abend schätze ich auf etwa vierzehn, der älteste dürfte locker ebenso so alt sein wie meine Lieblingssängerin Petula Clark, und die wird in diesem Jahr immerhin sechsundachtzig.

Kaum habe ich mich auf meinem Sitzplatz –  erste Reihe, ganz links – niedergelassen, komme ich mit dem Ehepaar neben mir in einen kleinen Schnack. Inhaltlich nichts Besonderes, aber sehr nett und absolut zur Atmosphäre passend.

19:30 Uhr. Die Saallichter verlöschen, der Vorhang öffnet sich, Auftritt Herr Ewald Brummer.

Es ist eine herrliche Vorstellung. Der Regisseur hat es wirklich geschafft, die Neuinszenierung frisch und eigenständig zu gestalten ohne die Kultinszenierung von ’66 dabei zu opfern. Seine Interpretation der Rollen von Herrn Brummer und Frau Knoop gefällt mir: Horst Arenthold und Sandra Keck sind deutlich jünger als damals Henry Vahl und Erna Raupach-Petersen, was sie lebenshungriger und frecher spielen lässt, aber immer noch reif und lebenserfahren genug, um aus den beiden Figuren keine albernen Parodien zu machen.

Eileen Weidel als von zu Hause ausgerissene Heike erinnert mich sehr an die junge Heidi Brühl mit der genau richtigen Mischung aus Charme, Plietschheit und einem kleinen Touch sympathischer Frechheit, der wiederum an die junge Conny Froboess denken lässt.

Beim ersten Auftritt ihres Galans Dieter Brummer muss ich spontan grinsen. Ich merke nämlich, dass ich heute nicht der einzige homosexuell talentierte Mann im Publikum bin, denn nicht nur mancher Dame entfährt ein entzücktes „Hui!“… Ein echter Hingucker!

Auch Heidi Mahler als Hauptfigur Meta Boldt ist großartig. Wie schon bei der Titelfigur in Fritz Stavenhagens Fischerdrama Mudder Mews trägt ihre Meta Boldt natürlich Züge einer Hommage an ihre Mutter Heidi Kabel (deren Lieblingsstück Mudder Mews war), ist aber trotzdem ein eigenständiges Herangehen, das sich auf keinen Fall hinter irgendetwas verstecken muss.

Die Spielfreude auf der Bühne überträgt sich auch auf uns Zuschauer. Das neue Haus des Ohnsorg am Heidi-Kabel-Platz ist größer als die alte Spielstätte an der Große Bleichen, aber immer noch familiär genug, um die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwimmen zu lassen. Das Ganze könnte ebenso gut wirklich in einem Treppenhaus spielen, und wir schauen dem Ganzen von der Treppe zum Wäscheboden zu.

Tratsch op de Trepp ist und bleibt ein echtes Feelgood-Stück: Es unterhält, entlarvt aber auch auf versöhnliche Weise unserer aller kleine Schwächen. Wir fühlen uns ertappt – und könnten trotzdem damit verdammt gut leben. Und am Ende geht es für alle gut aus. Es gibt keinen Grund, sich wegen solcher kleinen Streicheleinheiten für die Seele genieren zu müssen. Ich fühle mich richtig beseelt, und als beim Schlussapplaus ein Akkordeon aufspielt und wir alle im Theater zusammen An de Eck steiht ’n Jung mit ’n Tüdelband singen, bin ich obendrein so gerührt, dass ich mit einer kleinen Träne im Knopfloch raus in die Hamburger Nacht gehe.

Ich bin froh, dass ich in meinem Stammhotel diesmal nur eine einzige Übernachtung gebucht habe. Dieser Abend ist durch nichts zu toppen, darum gehe ich am nächsten Morgen nur noch ein, zwei Stündchen shoppen, ehe ich in den Intercity zurück ins Ruhrgebiet steige. Das nächste Date mit Hamburg steht eh schon in den Startlöchern…