Gefunden haben wir ihn nie. Aber wir waren unverdrossen und haben es jeden Sommer aufs Neue versucht. Wir haben mit Hilfe von kleinen Hämmern aus dem Heimwerkerkasten für Jugendliche und einem Spielzeugstethoskop nach Hohlräumen gesucht. Während unsere Väter bei der Gartenarbeit nach ihren Spaten und Spitzhacken gesucht haben, waren wir mit diesen Gerätschaften auf Expedition, weil wir nach einem neuen Hinweis an einer anderen Stelle als beim letzten Mal graben wollten. Dabei wussten wir nicht mal, ob es ihn wirklich gegeben hat.
Ich meine den unterirdischen Raum, den es in einem kleinen Wäldchen am Rande des großen Spielplatzes bei uns im Dorf gegeben haben soll. Alter und Nutzung wichen jedenfalls in den Schilderungen der diversen Geschichtenerzähler stark voneinander ab. Mal sollte es der private Bunker des Besitzers der Tongrube und Ziegelei gewesen sein, die es hier bis in die 1950er gegeben hatte. Anderen behaupteten, der Raum sei viel, viel älter und soll so eine Art Priesterloch gewesen sein, dessen letzer Gast dort sogar noch liegen sollte. Beziehungsweise das, was von ihm noch übrig sei. Die langweiligste Story sprach von der unterirdischen Vorratskammer eines längst abgerissenen Gutshofes. Wie das mit der Ziegelei zusammenpassen sollte, war uns nicht ganz klar, interessierte uns aber auch nicht. Eine Sammlung vierhundert Jahre alter Gewürzgurken wäre ein sehr enttäuschender Fund gewesen, wo wir doch auf der Suche nach einem Skelett waren. Am liebsten wäre uns ein gut gefülltes Schmugglerversteck gewesen, aber unser Dorf lag fernab jeglicher mittelalterlichen Schmuggelroute so tief in der Pampa, dass wir diese Idee in einem Anflug von Vernunft irgendwann selbst begruben.
Schon bei den ersten Jugendbüchern war für mich ein Abenteuer mit Enid Blytons Fünf Freunden nur mit einer ganz bestimmten Zutat wirklich rund: Wenn es einen Geheimgang beinhaltete. Beim Detection Club hingegen, einer britischen Vereinigung von Kriminalschriftstellern, der so berühmte Namen wie Dorothy L. Sayers, Ngaio Marsh, G. K. Chesterton und aktuell Ian Rankin und Val McDermid angehör(t)en, waren Geheimgänge verpönt und sind es bis heute. Trotzdem fiel mir meine Faszination für solche versteckten Räumlichkeiten wieder ein, als ich kürzlich die BBC-Dokumentation A Very British Murder der Historikerin Lucy Worsley sah und anschließend das Begleitbuch las. In beiden Medien zeichnete sie den Weg nach, wie [externer Link zu Wikipedia] der erste von Massenmedien breit dokumentierte reale Mordfall das Genre der Kriminalliteratur begründete und diese sich so entwickelte, wie wir sie heute kennen.
Trotzdem landete ich in Gedanken auch bei „unserem“ Geheimgang von damals. Noch heute frage ich mich manchmal, ob wir ihm bei unserer Buddelei jemals zumindest annähernd nahegekommen sind oder alles doch nur eine Spökenkiekerei (Schauergeschichte) war, mit der uns die Alten ein bisschen gruseln wollten.
Als ich meinen heutigen Mann kennenlernte, sprach er in unserem ersten Gespräch auch von seinem Sekretär. Natürlich meinte er keinen dienstbaren Geist, der sich um seine Post kümmerte und das Telefon bediente. Er meinte in der Tat das Möbelstück.
Nun hatte ich gerade einen Krimi gelesen, in dem das bedauernswerte Opfer des ruchlosen Meuchelmörders wahrhaft häppchenweise in den Fächern eines Sekretärs auftauchte, u. a. auch in einem Geheimfach. Gewiss, ich war nicht erpicht darauf, selbst dem ruhrpöttlerischen Pendant des „Schlächters von Soho“ in die Hände gefallen zu sein. Ich kann diesbezüglich auch Entwarnung geben. Aber in antiken Sekretären findet man ja bisweilen zumindest ein paar alte Briefe, die vom Schicksal des Besitzers erzählen. Wie groß war meine Enttäuschung, als sich der vermeintlich antike Sekretär als nicht mal zehn Jahre altes Stück aus einem Möbelabholmarkt entpuppte!
Die Entdeckung eines geheimnisvollen Geheimgangs oder -versteckes inklusive sensationellem Inhalt gehört also zu meinen unerfüllten Jugendträumen. Aber jetzt, wo ich langsam gehässiger werde (bekanntlich werden Gays genau das anstatt älter) möchte ich zumindest selber einen Sekretär mit Geheimfach hinterlassen, sobald ich nicht mehr da bin. Vorher werde ich natürlich hier und da mysteriöse Andeutungen über seinen Inhalt hinterlassen.
Nicht, das ich wirklich etwas zu vererben hätte, das die Unterbringung in so einem Gelass nötig machen würde. Aber das blöde Gesicht der hoffnungsvollen Jäger, wenn sie nur den Zettel mit meinem handgeschriebenen „Ätschi-bätsch!“ drauf finden… gni-hi-hi-hi-hi-hi-hi-hi-hi-hi…
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