Als ich noch ein Kind war, wusste ich immer ganz genau, wann der Frühling begonnen hatte. Dafür habe ich nicht mal einen Blick auf den ersten Krokus gebraucht. Aber wenn ich, so wie jeden Sonnabend, zum Mittagessen bei emienen Großeltern gegangen bin und mein Opa ist mal nicht dagewesen, habe ich sofort Bescheid gewusst. Opa ist nämlich immer in der letzten halben Stunde vor dem Essen zuhause gewesen. Darauf hat er bestanden: Um Punkt zwölf Uhr gibt das Mittag – und wehe dem, der dann nicht am Tisch gesessen hat!
Nur zu Frühlingsbeginn nicht, da ist er pflegeleichter gewesen. Andere Männer im Herbst des Lebens schauen sich vielleicht nochmal nach ein paar hübschen Mädchen um – mein Opa hat sich nach einem neuen Auto umgesehen. Klar, er hat nicht jedes Jahr einen neuen Mercedes bekommen, denn auf das Geld hat Oma schärfer aufgepasst als der schärfste Wachhund. Wenn ich also irgendwann in den ersten drei Monaten eines Jahres am Sonnabend zu meinen Großeltern gekommen bin und Opa ist nicht dagewesen, dann konnte das nur eines bedeuten: Es ist endlich Frühling, und Opa ist mal wieder auf einen Kaffee rüber zum Chef des Autohauses gegenüber und schaut sich die neuen Modelle an.
Bei meinem Mann und mir ist das anders. Wir bekommen jedes Jahr im Frühling einen Rappel und schauen uns neue Wohnungen an. Meist nur auf Internetportalen oder die Ausschreibungen in den Schaufenstern der Immobilienmakler in unserer Nachbarschaft. Zu was anderem sind wir dann doch zu bequem, und eigentlich wollen wir ja auch gar nicht aus unserem kleinen Nest raus. Wir spinnen nur ein bisschen rum.
Meist schauen wir uns nur die Altbauwohnungen an. Die Neubauten haben nämlich samt und sonders einen großen Mangel: Sie haben keine eigene Wohnküche, sondern sind bloß eine schmale Röhre, in der du gerade eben mit zwei Mann kochen kanns, oder sie teilen sich einen großen Raum mit Wohn- und Esszimmer, und so ein Unfug geht ja mal so gar nicht!
Wie sich das für echte Kinder aus den 70ern gehört, ist auch bei meinem Mann und mir die Küche die Schaltzentrale von allem. Am Küchentisch wurden in unseren Elternhäusern nicht nur die Kartoffeln fürs Essen geschält und die Bohnen geputzt. Nein, am Küchentisch ist gelacht und geheult worden, da wurde sich gestritten und wieder vertragen, da hatt es einen Anschiss für die eine Fünf in Mathe gegeben und fünf Mark für die eine Eins in Deutsch und was weiß ich nicht alles. So halten wir das auch, bloß ohne die Sache mit den Schulnoten.
Wegen all so etwas ist unsere Küche nicht nur das größte Zimmer (wie in so vielen Altbauten), sondern auch das, was am gemütlichsten eingerichtet ist. Aber selbst wenn das nicht so wäre… Ich meine, ich habe schon in Küchen gesessen, die wie eine Pathologie ausgesehen haben, so kalt und nüchtern waren die eingerichtet. Und an der Decke hat bloß eine Neonröhre gehangen – mit einem Licht, das so ein bisschen ins Violette ging. Hat ein bisschen an diese Insektenvernichtungslampen erinnert. Ihr wisst schon – die Fliege wird von dem Licht angelockt. Sie fliegt darauf zu: Bssssssssss… Bis es auf einmal so ein metallisches Brrrrääiing gibt – und von der Fliege bleibt nichts als Gekröse übrig.
Nicht wirklich schön, so etwas. Aber doch was besonderes, wenn du dorthin eingeladen wirst. Haben unsere Mütter schon so gemacht, wenn die Nachbarin mal wieder ganz aufgeregt an der Hintertür geklopft hat: „Ach, Anne, du glaubst ja nicht, was mir wieder für ein Malheur passiert ist!“ Es wäre meiner Mutter im Leben nicht eingefallen, die Nachbarin in die gute Stube zu bringen. Nee! „Ach, Stine, das kriegen wir alles wieder hin. Geh du mal schon in die Küche durch und nimm dir eine Tasse Kaffee. In der Stube sitzt noch der Mann von der Versicherung. Ich bring ihn schnell vorne zur Tür raus, dann komm ich zu dir und wir bequatschen das in aller Ruhe.“ Das ist das richtige Protokoll gewesen, um einer Freundin in Not zu helfen.
So eine Wohnküche hat einfach eine besondere Atmosphäre, die nicht nur was mit ihrer Einrichtung zu tun hat. Auch damit, was sozusagen die „Grundfunktion“ dieses Raumes ist: Du kochst! Und Kochen ist ein Gleichnis: Du machst mit deinen eigenen Händen was (wenn du nicht gerade so eine bescheuerte Alleskönner-Küchenmaschine da stehen hast), und da kommt was Tolles bei raus und räumst danach auf. Wenn du’s mal versaut hast, räumst du gleich auf, bis alles wieder ordentlich ist. So oder so – am Ende ist alles klar und übersichtlich.
Aber eines ist noch viel wichtiger bei so einer Küche. So, wie die Wohnstube das Spiegelbild unseres öffentlichen Auftrittes ist, zeigt die Küche das Spiegelbild unserer privaten Seite. Die Wohnstube ist für den Versicherungsonkel. Die Küche ist für Stine und ihre Malheurs. In der Wohnstube packst du das Geschirr „für gut“ auf den Tisch, obwohl du das gar nicht leiden kannst – aber das macht „man“ eben so. In der Küche trinkst du aus deiner Lieblingstasse mit der Macke am Henkel. Bei Parties rotten sich in der Wohnstube die Spaßbremsen zusammen, aus der Küche hörst du das lauteste Lachen.
Denn in der Küche bist du ganz selbst und redest, wie dir die Schnute gewachsen ist. Weil sie dein echtes Wohnzimmer ist. Die Brücke deines Schiffes. Dein Traumschloss – manchmal auch der Friedhof deiner Träume. In der Küche bist du du. In der Wohnküche wird nicht nur gewohnt, da spielt sich das echte Leben ab.
Darum ist sie auch der Ort, wo du mit den Lieben in deinem Leben die beste Zeit hast: Die Küche ist klar, ehrlich und reell. Keine Show. Ohne Filter. Wen du damit hinein nimmst, der ist wirklich willkommen bei dir – nicht nur in deiner Wohnung, auch in deinem Leben.
Und dann soll ich bei ’ner neuen Wohnung auf eine große Wohnküche verzichten? Ich denke ja gar nicht daran!