… oder Wie meine Familie die DDR-Behörden austrickste.
Wie viele Familien hatte auch die meine Verwandte in der DDR, als diese noch existierte. Als die Mauer fiel, war ich gerade sechzehn, und es war ziemlich aufregend, wie einfach sich plötzlich die Familienbande pflegen ließen. Zuvor hatte man sich nur selten gesehen. Im Westen scheute man die Reise; zuviel hatte man über Autos gehört, die bei der Kontrolle von den Grenzern zwar auseinander-, aber nicht wieder zusammengebaut worden waren, und die pekuniäre Angelegenheit mit dem Zwangsumtausch war auch irgendwie blöde.
Die Verwandten von “drüben” wären gerne öfter zu Besuch gekommen, aber dafür musste es einen besonderen Anlass geben, wie etwa den runden Geburtstag eines sehr nahen Westverwandten, damit dem Wunsch auf Familienzusammenführung von staatlicher Seite stattgegeben worden wäre.
Aber es wurden viele Briefe geschickt und natürlich Pakete: Klamotten, Westlebensmittel, Spielzeug, Schallplatten und so weiter. Bücher von Westautoren waren auch beliebt. Natürlich musste der Lesestoff besonders sorgfältig ausgewählt werden, wurden Pakete doch regelmäßig darauf gefilzt, ob deren Inhalt auch keine Gefahr für den real existierenden Sozialismus darstellte. Es gab zum Glück einige Bücher, die eigentlich immer durchgingen. Krimis von Agatha Christie, zum Beispiel – selbst die Romane um das Agentenpärchen Tommy und Tuppence, denn diese amüsanten Spionagethriller waren dermaßen hanebüchen, dass wahrscheinlich selbst die Stasi sich halb totgelacht hat. Leichte Komödien von Evelyn Sanders überstanden die Reise gen Osten ebenso wie Liebesromane von Barbara Cartland und die vor Sex nur so triefenden Familiensagen aus der Feder Sidney Sheldons.
Schwierig wurde es bei Autoren, die gelegentlich politisch oder zeitgeschichtlich schrieben. Barbara Noack etwa, deren heitere Romane wie Die Zürcher Verlobung teilweise auch verfilmt wurden, hatte mit Ein Stück vom Leben einen autobiographischen Roman über die unmittelbare Zeit nach dem Tag der Befreiung und die bisweilen schrecklichen Erfahrungen beim Einmarsch der Russen in Berlin geschrieben. Das Paket mit diesem Buch ist dann auch nie bei der in Dessau lebenden Cousine meiner Großmutter angekommen.
Nahezu unmöglich war es, Werke von Heinz G. Konsalik in die DDR zu schaffen. Nun stand dessen Werk wegen seiner raschen Massenproduktion auch bei uns im Westen nicht gerade in der höchsten Gunst. Zumindest nicht in der des seriösen Feuilletons, aber im Gegensatz zu heute, wo man ihn so gut wie gar nicht mehr in den Buchhandlungen findet, verkauften sich seine Bücher damals wie geschnittenes Brot. Deswegen war man auch in der DDR auf ihn aufmerksam geworden. Der dortigen Staatsführung galt er allerdings u. a. wegen seiner Romane über den Arzt von Stalingrad, das Frauenbataillon und andere Figuren, deren Geschichten im Zweiten Weltkrieg und dort oft im arg pathetisch beschriebenen Russland spielten, als nicht tragbar, was man der Einfachheit halber pauschalisierte und auch auf seine harmlosen Liebesschnulzen und die nachträglich zu Romanen verwursteten Drehbücher für das Traumschiff übertrug.
Nun stellt bekanntlich alles, was verboten ist, eine ganz besondere Verlockung dar, weswegen unsere Verwandten hinter den Konsaliks her waren wie der Teufel hinter der armen Seele. Ob russisches Drama, Krimi, Schicksalsroman oder Umweltaktivistenthriller mit Pseudo-Botschaft an die Welt: Durch die Konsaliks wurde sich regelrecht hindurchgefräst. Da diese Bücher aber eben so gut wie nie die Grenzkontrollen überstanden, hatte das während der Besuche im Westen zu geschehen.
Ein Buch von Konsalik hatte es uns allen besonders angetan. Das las sogar ich, der renitente Teenager, dem sonst die Stephen King-Romane nicht gruselig genug sein konnten und der bei Befragungen zu Konsalik alles bestritten hätte, einschließlich der Tatsache, überhaupt lesen zu können. Das Buch hieß Mit Familienanschluss und war eine der klassischen deutschen Familienkomödien der 80er Jahre, wie sie damals auch von Doris Jannausch, Curth Flatow oder Evelyn Sanders geschrieben wurden.
Die Familie Wolters aus Bamberg plant ihren Italienurlaub. Dabei sind der steife, konservative und überpenible Studienrat Herrmann, seine vernünftigte und bodenständige Frau Dorothea, der 19jährige Sohn Walter mit seinen linksrevolutionären Ambitionen, die 18jährige aufmüpfige Tochter Gabi und das Nesthäkchen. Letzteres, der 10jährige Manfred, ist als Nachzügler so dermaßen verwöhnt worden, dass er unausstehlich ist und dringend eine Betreuung braucht, damit die fünf Wochen an der Riviera nicht für alle zur Nervenprobe werden. So kommt die 23jährige Eva ins Haus – Studentin, blond, ebenso langmähnig wie -beinig und einfach nur wow. Die Folge: Herrmann stürzt regelrecht in den zweiten Frühling, während Walter es auf einmal nicht mehr so mit dem Kommunismus und erst recht nicht mit seiner Freundin Ingeborg hat. Dorothea sieht ihre Ehe in Gefahr, Ingeborg taucht unangekündigt im Urlaubsort auf, Manfred lädt heimlich ein paar Verwandte ein, die niemand ausstehen kann, und das als Paradies angepriesene, natürlich teuer im voraus bezahlte Ferienhaus ist eine Bruchbude. Die Zeit an der Riviera wird nun doch das, was eigentlich vermieden werden sollte.
Es gibt sicher höher angesehene Perlen der Unterhaltungsliteratur, aber Mit Familienanschluss ist trotzdem amüsant zu lesen. Hermanns und Walters Gebalze um die schöne Eva, ihr Vater-Sohn-Kampf um politische Ansichten, die ebenso unbeholfen wie entschlossen durchgeführte Rückeroberung ihres Terrains durch Dorothea und das mangelbeladene Ferienhaus… Die ganze Familie ergibt in ihrer Dysfunktionalität eine extrem unterhaltsame Mischung. Noch heute ziehe ich dieses Buch gerne hin und wieder aus dem Regal
Tja, und wie gesagt – neben der ganzen Familie “bi uns op’n Dörp” war eben auch die Verwandtschaft aus “der Zone” vollkommen verrückt danach. Das ging soweit, dass eine inzwischen verblichene Tante irgendwann all ihren Mut zusammennahm und auf der Rückreise vom Westbesuch ein last minute am Bahnhof erworbenes Exemplar in ihrem BH über die Grenze schmuggelte. Sie ist auch tatsächlich nicht aufgeflogen, obwohl ihre ohnehin schon beachtliche Oberweite im linken Busen nun etwas… nun, ja… eckig anmutete. Diese kleine geometrische Unausgeglichenheit scheint der dicke Wintermantel ganz gut kaschiert zu haben.
Ihrem Exemplar des Buches widerfuhr nun das, was unsere längst hinter sich hatten: Es wurde großzügig bei Freunden und Verwandten herumgereicht und war rasch so zerlesen, dass es dringend durch ein neues Exemplar ersetzt werden musste. Große Feste und deshalb zu genehmigende Verwandtenbesuche standen aber erstmal nicht an, worauf der Plan geboren wurde, es doch noch einmal mit dem Postversand zu versuchen. Es bedurfte nur ein paar gewiefter Tricks.
Ein Paar Stiefel wurde konfisziert – natürlich bei jenem Familienmitglied, das mit Schuhgröße 47 die größten Quadratlatschen hatte. Das Buch wurde in Alufolie gewickelt, dann kam Seidenpapier drum und schließlich wurde es auf abenteuerliche Weise so weit nach vorn wie möglich in den Stiefel geschoben. In den rechten kam etwas anderes, meist auch etwas, das ähnlich schwer nach “drüben” zu schaffen war. Zum Schluss wurden die Stiefel in ein Paket geschoben, ein paar Makoschlüpfer und ein paar T-Shirts draufgestopft, zugeklebt und ab zur Post damit. Jetzt hieß es: Daumen drücken. Entweder kam die Sendung durch oder es blieb auf der Strecke.
Ein anderer Trick waren VHS-Videocassetten: Da die Papphüllen der Leercassetten für den Hausgebrauch nun wirklich nicht schön im heimischen Regal anzusehen waren, hatten pfiffige Hersteller Plastikhüllen erfunden, die wie die Umschläge auf antik getrimmter Bücher aussahen. Wenn man auf diese mit goldenem Edding einen harmlosen Buchtitel schrieb…? Glänzende Idee, aber was galt den als harmlos? Die Bibel wurde bisweilen auch misstrauisch beäugt, und das Kommunistische Manifest wäre wahrscheinlich als vermeintlicher Hohn auf ungewollte Aufmerksamkeit gestoßen. Irgendwann hatte ein findiger Geist den Einfall, einfach den Buchtitel eines in der DDR ausdrücklich approbierten Autors darauf zu pinseln und eine Karte mit dem Spuch “Anbei das Buch zurück, das du bei uns vergessen hast” daneben zu legen.
Ein weiteres Exemplar ist in der präparierten Pappschachtel einer Dr.-Oetker-Backmischung auf die Reise gegangen.
Ich glaube, so um die zehn bis fünfzehn Exemplare von Mit Familienanschluss haben auf abenteuerlichem Weg in die DDR gefunden. Dieses Buch war sozusagen die Erfolgsstory in unserem Bestreben, unseren Lieben dort einen wirklich harmlosen kleinen Unterhaltungsroman zukommen zu lasen: Es sind ausnahmslos alle Pakete unversehrt angekommen.
Das liest sich jetzt alles sehr entspannt und in gewissem Maße wohl auch witzig – ich habe beim Tippen selber ein paarmal schmunzeln müssen. Aber noch größer ist eigentlich die Dankbarkeit. Nämlich dafür, dass wir in ganz Deutschland die Freiheit haben, das lesen zu dürfen, worauf wir Lust haben, und niemand kann es uns verbieten. Auf diese und andere Freiheiten sollte man sich mal wieder etwas mehr besinnen – gerade angesichts der Tatsache, dass es wieder Parteien gibt, die genau das Gegenteil anstreben.