Foodporn und Osmium

Reisetagebuch 2018 – Teil 2

Hamburg – Montag, 13.08.2018 – gegen 7:00 Uhr im Hotel

Aua! Aua! Aua!

Es gibt nichts bescheuerteres, als mit einem veritablen Muskelkater aufzuwachen. Aber warum habe ich den nur auf der linken Seite im Arm und Schulterbereich? Gut, ich habe gestern viel mit dem Kuli geschrieben, aber das mache ich doch als eine der wenigen Sachen mit rechts? Die Gabel beim Abendessen war nicht aus Osmium, und das Mineralwasser kam auch nur im 0,33er Glas, nicht in einer Dranktonne. Was habe ich denn gestern noch gemacht? Ausgepackt und den Koffer auf den Schrank gewuch…

Alles klar: Die Anreise gestern. Einen vollen Koffer mit Kamera und Lesestoff sowie Kledaasche, Kulturtasche und Medikamenten für fast eine ganze Woche trägt man nicht mal „so eben“ einhändig über die komplette Länge eines über 200 m langen Zuges, der gerade über Weichen und durch diverse Kurven rumpelt.

Wie auch immer – das wird heute garantiert lustig für mich, den ollen Linkshänder!

gegen 10:00

Für heute habe ich keine gezielten Pläne, also bin ich einfach drauf los gezogen und irgendwann im Viertel um die Trostbrücke gelandet.  Inzwischen habe ich St. Nikolai erreicht, jene Kirchenruine, die an den Hamburger Feuersturm erinnert – und an die aus Hass, Ignoranz, Dummheit und Rassismus gespeisten politischen Strömungen, die überhaupt erst zu diesem Ereignis geführt haben. Es ist unfassbar, dass es keine achtzig Jahre gedauert hat, bis wir solche Strömungen wieder erleben müssen. Gestern schon habe ich an Marlene Dietrich denken müssen, heute passiert es mir wieder.

„Wann wird man je verstehen?“

Scheinbar gar nicht.

Fuck.

Eines der Denk- und Mahnmale im ehemaligen, heute dachlosen Kirchengebäude von St. Nikolai, die an die Folgen der Nazizeit und des Hamburger Feuersturms erinnern. Eine neue Intepretation dieser Tage könnte auch „Fassungslosigkeit über das, was gerade in der Welt abgeht“ lauten.

gegen 14:00 Uhr

Endlich ein ruhiger Platz zum Mittagessen. Ich weiß gar nicht, welcher Teufel mich zum ersten Versuch mit dem Food Sky in der Europapassage beim Jungfernstieg getrieben hat. Futterhimmel heißt das sehr frei übersetzt, aber himmlisch fand ich es da gar nicht. Nichts gegen die diversen Anbieter von Essbarem dort, die sind bestimmt allesamt in Ordnung. Aber die Atmosphäre…! In dem riesigen Verzehrbereich geht es fast drubbeliger zu als drüben in dem  Riesenkasten an der Kirchenallee. Das würde nur dazu führen, dass ich mein Essen runterschlinge, um möglichst schnell wieder die Biege machen zu können. Nee, danke – dat deit nich nötig!

Jetzt sitze ich also in einem schon vor zwei Jahren entdeckten Bistro in Winterhude und überlege kurz, gegen meine innere Überzeugung einen Pornofilm zu produzieren. Also, so genannter Foodporn, natürlich – was denn sonst? Mit einem einfachen Foto wäre es jedenfalls nicht getan. Es muss schon ein Film sein. Der wäre dann auch nicht für die begeisterten Fans bei Facbook oder im Blog, sondern einzig für meine Familie. De bloße Erzählung würde auf keinen Fall ausreichen um glaubhaft zu versichern, dass ich das hier wirklich esse, was so appetitlich auf meinem Teller duftet.

Dabei ist es nicht mal dieses eine eklige Zeug, bei dem mich schon der Gedanke daran kotzen lässt. Sondern mein zweites großes Essenstrauma, das ich hiermit für überwunden erkläre.

Schade, dass meine Mutter das nicht mehr erleben kanndas Gesicht hätte ich zu gerne gesehen! Immerhin habe ich fast dreißig Jahre lang die Wette zwischen ihr und mir nicht einlösen müssen: „Wenn Schalke 04 jemals deutscher Fußballmeister wird, esse ich freiwillig Sauerkraut!“

Das ist bekanntermaßen nie eingetreten, aber jetzt sitze ich trotzdem vor einem Teller, auf dem Sauerkraut liegt, einfach weil es bei dem bestellten Veggiegericht dabei war, esse es zum ersten Mal seit rund fünfunddreißig Jahren, mache das sogar freiwillig, finde es lecker, und stelle mir vor, wie meine Mutter mir von ihrer Wolke aus mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Triumph und Amüsement zuguckt. Lieben Gruß nach oben!

Ich habe jetzt auch ziemlichen Schmacht nach dem langen, ziellosen Mäandern durch Harvestehude. Ganz bewusst ohne Kamera, weil ich mich nicht ablenken lassen wollte. Ich mag die Gegend um den Innocentiapark: Ein Viertel aus kleinen und mittleren Villen, eingebettet zwischen den hohen Häusern mit weißen Fassaden an der Rothenbaumchaussee, wo man früher „auf Etage“ wohnte, und den Hochhäusern am Grindel. Eine Gegend zwischen schick und schlicht, zwischen bodenständig und überkandidelt.

Im Innocentiapark

Der nahezu quadratische Park an sich ist dann auch eher schmucklos: Ein Baumgürtel umgibt eine riesige Rasenfläche, an der östlichen Seite gibt es einen Spielplatz. Als ich vorhin da war, zog eine einsame Joggerin ihre Bahnen auf den Weg um die Wiese, Kinder waren trotz Sommerferien keine zu sehen. Aufziehende Bewölkung ließ den Park in diesem Moment trotz 28° im Schatten eher herbstlich wirken. Eine meiner Lieblingssängerinnen soll hier irgendwo in der Nähe wohnen, und irgendwie kann ich sie mir gut vorstellen, wie sie in ein paar Wochen tatsächlich hier in einem Mantel mit hochgeschlagenem Kragen auf einer Bank sitzt und zusieht, wie die goldbraunen Blätter langsam zu Boden segeln.

gegen 23:00 Uhr im Hotel

Der Nachmittag war heute echt der Stresstest: Das angekündigte erste Regenband seit Wochen ist über die Stadt gezogen. Letztes Jahr hat mich das aufgrund meines Gesundheitszustandes ziemlich in den Keller gezogen. Okay, mit Dauerregen wie damals ist in diesem Jahr wohl nicht zu rechnen. Aber wenn ich mal wieder einen etwas stärkeren Schub habe, reicht schon ein Schauer von 5 Minuten, um mich für den Rest des Tages aus der Bahn zu werfen.

Erkenntnis: Ich bin in guter medizinischer Behandlung. Wo das Shoppen im letzten Jahr ein Alternativprogramm war, das mich nur mit Mühe und Not vom Durchdrehen abgehalten hat, macht es mir in diesem Jahr wieder richtig Spaß.

Meinen Klamottenbedarf decke ich schon seit Jahren nicht mehr im Einzelhandel der Dortmunder Fußgängerzone. Ich spare mein Budget über zwölf Monate hinweg an, und dann wird in Hamburg eingekauft: Größeres, bunteres und ansprechenderes Warenangebot, entspanntere und einladendere Atmosphäre, freundlichere Verkäufer.

Auch in der Lieblingsbuchhandlung ein Volltreffer: London Calling von Annette Dittert. Ich fand schon den gleichnamigen Videoblog der Großbritannienkorrespondentin großartig, und ich habe jahrelang darauf gewartet, dass das auch in nachlesbarer Form gibt. Der Lesestoff für die Rückreise am Freitag steht fest. Zum Lesen habe ich jetzt sowieso keine Zeit – ich muss noch über die App auf dem Handy noch die neueste Folge meiner Lieblingssendung hören, die vorhin um halb acht lief, als ich bei nun mehr wieder aufgeklartem Wetter noch zum Abendessen am Hafen war. Danach geht’s ins Bett – morgen geht’s früh aus den Federn!

Ein Teil der heutigen Shoppingausbeute

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