Wir haben Masern – es muss Weihnachten sein lautete der deutsche Titel einer der Kolumnen von Amerikas beliebtester Hausfrau Erma Bombeck. In meiner Familie finden solche wenig zauberhaften Abwechslungen zwar nicht immer punktgenau an Weihnachten statt, hauptsächlich passiert in den acht Wochen vorher: Operationen, Todesfälle, abenteuerliche Versicherungsschäden, Wanderungen von wichtigen Haushaltsgeräten ins Elektroschrottnirwana, Freunde schütten einem ihr liebeskummergeplagtes Herz aus – zwischen Allerheiligen und Heiligabend drubbelt sich sowas bei uns. Eine wirklich „besinnliche“ Vorweihnachtszeit kenne ich eigentlich gar nicht.
Vorgestern habe ich mir z. B. mit einem Gurkenhobel die Fingerkuppe vom rechten Zeigefinger abgesäbelt. Reine Blödheit meinerseits – als Linkshänder führe ich das zu hobelnde Gemüse normalerweise auch mit der linken Hand. Keine Ahnung, was mich dazu getrieben hat, diesmal die ungeschicktere rechte Hand zu nehmen. Tollkühne Abenteuerlust bediene ich jedenfalls für gewöhnlich weniger blutig.
Jetzt habe ich einen dicken Verband um den Zeigefinger und kann nicht mal mehr an der Supermarktkasse einen EC-Beleg unterschreiben, denn das mache ich als Kind der Generation „linke Hand ist bäh, das müssen wir umerziehen,, ,“ natürlich mit rechts. Das Tippen dieses Artikels ist auch ein Abenteuer – statt mit zehn Fingern und 450 Anschlägen in der Minute arbeite ich mit der berühmten Adler-such-Taktik, die sehr langsam ist und dank des gelegentlich in den Weg geratenden verbundenen Fingers hochinteressante sprachliche Neuschöpfungen hervorbringt. Wer beim Lesen welche findet, darf sie übrigens gerne behalten!
Was für eine Störung meiner Komfortzone. Aber, hey – ich komme irgendwie ans Ziel. Und das ist doch die Hauptsache.
Ach, ja – die Komfortzone. Wir bewegen uns ungern aus ihr heraus. So ungern, dass wir sie sogar über die Menschen stellen, die uns am nächsten und wichtigsten sind.
Heute habe ich gelesen, dass der Hamburger Hauptbahnhof zwischen dem 25.12.2018 und dem 02.01.2019 aufgrund von Bauarbeiten nur eingeschränkt erreichbar sein wird; viele Fernverbindungen mit Umstieg zu Anschlusszügen werden wieder einmal in Hamburg-Harburg abgefertigt.
In den Sozialen (?) Medien hat sich bei den Meldungen der entsprechenden Nachrichtenversorger natürlich gleich wieder ein Sturm der Entrüstung erhoben.
„Natürlich! Wieder mal zur Ferienzeit!“ – „Denkt da über die Termine keiner nach?!“ – „Och, menno, da will ich EINMAL verreisen!“
Man kennt das und es steht Pate für alle Orte, wo mal wieder an Gleisbetten gebuddelt und Stromleitungen geklöppelt wird.
Also, fassen wir mal zusammen: Gleibauarbeiten kommen zur falschen Zeit, wenn sie zur regulären Zeit im Berufsverkehr u. ä. stattfinden. Sie kommen aber auch zur falschen Zeit, wenn sie in die Ferienzeit gelegt werden. Was bleibt da noch, außer es ganz sein zu lassen? Geht natürlich auch nicht, denn wie die Bahn es macht, macht sie’s verkehrt. Was für ein schöner Anlass zum Nörgeln. Können wir ja so gut, wenn unsere Komfortzone gestört wird.
Komfortzonen sind gewiss wichtig für unseren inneren Ausgleich, aber übertreiben wir es nicht manchmal mit dem So-gar-nicht-verlassen-wollen? Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit fällt mir das immer wieder auf. Gefühlte Millionen von Weihnachtsliedern, -stories, -filmen und vor allem auch realen Reportagen erzählen davon, was deren Protagonisten alles anstellen, um an Weihnachten bei ihren liebsten Menschen zu sein. Aber das Wie ist doch pottegal, weil hier nicht der Weg das Ziel ist. Es geht darum, dass man am Ende seiner Reise bei seinen Liebsten ist.
Denken wir doch nur an den angeblich auf Tatsachen beruhenden Buchklassiker Soweit die Füße tragen. Sicherlich keine typische Weihnachtsgeschichte, aber als Clemens Forell zwei Tage vor Heiligabend bei seiner Familie im heimatlichen München eintrifft, hat er nach seiner drei Jahre dauernden Flucht aus einem russischen Arbeitslager für Kriegsgefangene mehrere tausend Kilometer zu Fuß oder als (teilweise blinder) Passagier aller möglichen Transportmittel und unter Überwindung tödlicher Gefahren hinter sich gebracht.
Und da regen einige Zeitgenossen sich bei dem First World Problem auf, dass sie auf der Weihnachtsreise nach Hamburg ihren Hintern schon in Harburg aus dem Sessel ihres mollig warmen Intercitys lupfen müssen, um die letzten Meter langsameren, unkomfortableren und meist überfüllten S3/S31 zurücklegen müssen? Also, bitte…