Eigentlich gibt es zehn Wohnungen in unserer Mietskaserne. Neun davon sind belegt. Die zehnte, eine kleine Mansarde, ist seit Ewigkeiten ungenutzt, weil sie von der Ausstattung her auf dem Stand der Adenauer-Ära verharrt ist. Ein eventueller Bewohner müsste mit einem Etagenbad vorlieb nehmen, doch da es die im Haus längst nicht mehr gibt und die Wohnung an sich so klein ist, dass kein eigenes Bad eingebaut werden könnte, steht sie eben leer. Es hat mal Anläufe gegeben, die Wohnung daneben per Durchbruch zu vergrößern, und auch als Atelier für einen Fotografen ist das kleine Stiefkind zeitweise in Nutzung gewesen, doch das ist alles immer sehr schnell im Sande verlaufen.
Ergo steht die Wohnung leer. Trotzdem gibt es an der Haustür einen Klingelknopf und im Flur einen Briefkasten. Ordnung muss sein.
Obwohl an diesem Briefkasten lange kein Namensschild hing, fand sich jeden Tag etwas darin. Meist war es Reklame, die in der Nachbarschaft ausgetragen wurde. Doch selbst die gute alte Post stopfte munter die meist mit „An die fernsehinteressierten Bewohner des Hauses So-und-so-Straße 1“ oder ähnlich adressierten Massensendungen in diesen Briefkasten. Bis das Ding irgendwann überquoll und der Mitbewohner, der grade mit der Scheuerwoche dran war, sich erbarmte, den ungenutzten Briefkasten mit Hilfe einer Häkelnadel zu leeren, damit unser Eingangsbereich nicht bald einer Sammelstelle für Altpapier glich. Einmal fand sich dabei sogar einer von diesen amtlichen gelben Briefumschlägen, mit denen gerichtlich erlassene Schreiben förmlich zugestellt werden. Empfänger war jedoch niemand aus unserem Haus, sondern jemand in einem ganz anderen Haus in einer ganz anderen Straße in einem ganz anderen Stadtteil…
Irgendwann ist jemand auf die Idee gekommen, einen Hinweis anzubringen, dass es keinen Wert hat, diesen Briefkasten zu befüllen. Da, wo das Namensschild hingehört, steht nun schwarz auf weiß: Niemand.
Seitdem ist der Briefkasten voller als vorher.