Böse Zungen – genauer gesagt: ich – behaupten, das Leben in dem dörflichen Vorort des Vororts der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wurde nur dann aufregend, wenn jemand ein lebendiges Karnickel vor den Linienbus warf, damit dieser überhaupt anhielt, aber das ist natürlich übertrieben. Ein wenig mehr (Betonung auf wenig) war schon los. Manchmal haben wir nur nichts davon mitbekommen. Meine Familie besteht nämlich aus notorischen Tiefschläfern. Neben uns könnte unbemerkt die sprichwörtliche Bombe explodieren.
In einer bestimmten Nacht vor einem guten Vierteljahrhundert war es allerdings ein Gasofen, der da unbemerkt explodierte. Das war Sensation #1.
Sensation #2 fand sich im Ort des Geschehens wieder: Als das Etablissement in die Räumlichkeiten eines ehemaligen Gasthofs eingezogen war, hatte sich bei uns erstaunlicherweise kein Protest geregt. Mit stoischem Gleichmut wurde registriert, dass es nun op’n Dörp einen Puff gab.
Zwei oder drei Jahre lang lebte man in friedlicher Koexistenz. Die meisten männlichen Pubertierenden in der Nachbarschaft, die sich optische Stimulanz, vielleicht sogar die ersten praktischen Erfahrungen vor Ort erhofft hatten und deshalb wie Kater auf Baldrian um das Haus geschlichen waren (aus bekannten Gründen war meine Wenigkeit hier ziemlich außen vor), wurden rasch bitter enttäuscht. Man bekam von dem Treiben (kein Wortspiel beabsichtigt) in dem Laden wirklich nichts mit. Zeitweise fragte man sich, ob dort überhaupt jemand verkehrte (dito).
Doch dann strebte besagter Gasofen eine neue Karriere als Rakete an. Die Feuerwehr rückte aus und hatte das Feuer bald unter Kontrolle, während verlegene Herren auf der Straße umher liefen, sich in irgendwelche Büsche schlugen, um hektisch ihre Kleidung in Ordnung zu bringen und sich dann so schnell wie möglich vom Acker zu machen. Letzteres wusste die Polizei aus Sorge um ausbleibende Zeugenaussagen natürlich zu verhindern.
Die Damen der Nacht hingegen waren die Ruhe selbst – für sie war das Feuer nicht aufregender als eine Razzia, denn trotz allem Chaos war niemand zu Schaden gekommen.
Mein Clan erfuhr all dies aus zweiter Hand, denn wir hatten rein gar nichts mitbekommen. Und das, obwohl es von unserem Haus keine hundertfünfzig Meter bis zu dem Puff waren. Als die Geschehnisse in der Nachbarschaft die Runde machten, lautete einer der Kommentare dann auch prompt: „Ihr verpennt ja sogar, wenn euer eigenes Haus fast zusammenbricht!“
Schuldig in allen Anklagepunkten… An einem Morgen kurz vorher war ich nämlich aufgestanden und ging aus meinem Dachzimmer nach unten. Ich schlurfte an dem Fenster auf halber Treppenhöhe vorbei, stutzte und kniff die Augen zusammen. Stand da wirklich ein Auto in unserem sonst so gepflegten Vorgarten? Tatsächlich. Der Maschendrahtzaun war geborsten, die beiden Koniferen waren zur Seite genickt, die Begonien plattgewalzt – und mitten auf dem Rasen stand ein Opel Kadett, dessen Fahrt durch unsere Hauswand gestoppt worden war. Vom Fahrer keine Spur.
Bald darauf klingelte unsere Hauswirtin, eine sprichwörtliche alte Jungfer und als solche mit der Situation hoffnungslos überfordert. Sie müsse die Polizei rufen, dabei wisse sie nicht mal, wann der Unfall passiert sei.
Am Ende löste sich alles in Wohlgefallen auf. Die Polizei ermittelte den Halter des Wagens, der reumütig alles zugab. Er erhielt seine Strafe, unsere Hauswirtin einen Schadenersatz und wir den Rat, unsere Ohren doch mal ein wenig mehr auf Wachsamkeit zu trainieren. Denn wäre Fräulein L. beim Prozess als Nebenklägerin aufgetreten, hätte ihr Anwalt uns als Belastungszeugen glatt abgelehnt…