Schuld waren die Prämien. Weiterlesen

Schuld waren die Prämien. Weiterlesen
Hamburg, 17.06.2013, morgens gegen acht Uhr. Jogging rund um die Außenalster. Der Weg führt unter anderem am Ruderclub Favorite Hammonia und am Konsulat der USA vorbei. Eine Bodenwelle im Sandweg etwa auf Höhe der Fontenay bringt mich zu Fall, ich stürze. Ich presse ein rustikales „So’n Schiet ober ook“ hervor, aber abgesehen davon, dass ich eine Handvoll Alsteruferstaub gefressen habe, ist nix weiter passiert.
Zu dieser Zeit anwesend: Ein Herr im Businessanzug, zwei Jogger, eine ältere Dame mit Hund und eine junge Frau auf einem Fahrrad. Alle kommen sofort auf mich zu und bieten mir Hilfe an. Der Geschäftsmann zückt sein Handy, um ggf. den Rettungswagen zu bestellen. „Alles in Ordnung? Ist was passiert?“-Fragen aus fünf Kehlen. Ich bedanke mich höflich, versichere, dass es mir bestens geht, und verabschiede mich von allen. Natürlich bei jedem einzeln mit Handschlag, Struppi bekommt einen Kinnkrauler.
Ich schüttele noch etwas Dreck von meiner Hose, dann setze ich meine Joggingrunde ohne weitere Zwischenfälle fort.
Zur Erinnerung und zum Vergleich verweise ich auf das, was vor einem Jahr, zwei Wochen und fünf Tagen passiert ist. Noch Fragen, warum ich mich in der norddeutschen Heimat wohler fühle als im Exil? Weitere Beispiele verfügbar.
Dortmund, 29.05.2013, morgens gegen neun Uhr. Jogging in Richtung Hombruch. Der Weg führt unter anderem an der großen Umsteigestation Barop Parkhaus vorbei, Knotenpunkt für eine Stadtbahnlinie und vier oder fünf Buslinien. Ein hochstehender Pflasterstein beim Wartebereich für die Busse bringt mich zu Fall, ich stürze, schabe über einige andere Pflastersteine, schlage mir dabei Knie und Stirn blutig, mein T-Shirt bekommt einen klaffenden Riss. Den Schmerz merke ich nicht, denn ich bin so verdattert, dass ich erstmal regungslos liegen bleibe. 10 Sekunden? Eine Minute? Who knows. Dann sortieren sich meine Sinne langsam wieder und ich merke: Wäre ich noch zwanzig Zentimeter weitergerollt, wäre ich mit dem Kopf noch mitten in einer Glasscheibe gelandet.
Zu dieser Zeit anwesend: Drei Busfahrer, die auf ihren Stadtbahn-Anschluss gewartet haben, und rund 25 Passagiere beim Ein-/Aus-/Umsteigen. Nicht einer von denen kommt zu mir rüber und bietet mir Hilfe an. Keiner zückt sein Handy, um ggf. den Rettungswagen zu bestellen. Desinteresse allenthalben. Ich rappele mich auf, hinke los und mache mich so gut es geht auf den Weg nach Hause. Dabei muss ich die Straße überqueren und komme am Wartebereich für die Busse in die Gegenrichtung vorbei. Da gröhlt mich einer, der meinen Unfall von einem Logenplatz auf einer Bank aus beobachtet hat, im breitesten Dr. Stratmann-Ruhrpöttlerisch und mit schadenfrohem Grinsen an: „Dat hat gezz abba wehgetan, woll?“
Kein Kommentar.
Nur der Verweis auf das, was knapp drei Wochen später in Hamburg passiert ist.
Ist jemand hier fernsehaffin genug, um Honey Boo Boo zu kennen? Mir war sie jedenfalls unbekannt, bis der Name am letzten Wochenende mehrmals fiel. Um nicht ganz uninformiert dazustehen, habe ich kurz das Internet befragt. Selbiges verriet, dass Honey Boo Boo der Spitzname eines sechsjährigen amerikanischen Mädchens ist, das von seinen Eltern nicht nur zu den berühmt-berüchtigten Beauty Pageants (Schönheitswettbewerben für Kinder) geschickt wird, sondern dass das Leben der Familie aus Georgia auch Teil einer Reality-Show ist, wobei das Hauptaugenmerk auf Honey Boo Boo liegt.
Jetzt noch schnell ein YouTube-Video geschaut (manchmal sind Smartphones ja doch ganz praktisch). Was man sehen konnte, war eine Familie, die auf uns Mitteleuropäer wie eine Mischung aus den Bundys und Vom Winde verweht wirken muss, im Zentrum der Aufmerksamkeit ein Mädchen mit flachsblonden Locken, etwas Babyspeck und viel Wichtigem zu sagen. In diesem Alter plappern Kinder munter drauflos und sprudeln heraus, was ihnen gerade in den Kopf kommt, und etwas wie mitten ins Popcorn zu rotzen niesen löst bei ihnen unbändige Heiterkeit aus. Ist nun mal so, weil Kinder noch nicht den „gesellschaftlichen Schliff“ eines Erwachsenen haben. Kennen wir alle aus unserem eigenen Umfeld und vor allem unserer eigenen Kindheit. Ist nicht weiter tragisch. Das ist für die Familie bestenfalls witzig, schlimmstenfalls peinlich, wenn Fremde das mitbekommen und auf einen bedauerlichen Mangel an Kinderstube schließen.
Natürlich wird’s für das Kind an sich auch noch einmal peinlich – spätestens dann, wenn es selber Mutter ist und seine eigene Mutter (nunmehr die Funktion der Großmutter bekleidend) die Enkelkinder der Familie aufklärt, was für ein Früchtchen die Mutter noch war. Aber es bleibt in der Familie.
Derlei Beschränkung auf einen handverlesenen Kreis wird Honey Boo Boo nicht vergönnt sein, eben weil ihre Familie sie so ungeschützt in die TV-Kameras hält. Sich jetzt mit unserem mitteleuropäischen Auge ein Urteil über diese Familie anzumaßen, wäre gewiss falsch. Amerika tickt nun mal anders, und sowohl die Prominenz als auch das Geld im Schlepptau dieser Reality-Show sind vielleicht die einzige Möglichkeit, in Zeiten ökonomisch schwerer Fahrwasser nicht völlig unterzugehen. Aus dem YouTube-Clip ließ sich zudem durchaus schließen, dass die Deern die Aufmerksamkeit bei den Pageants und auch durch das Leben als Fernsehkind jetzt noch genießt. Sie ist ja auch erst sechs.
Aber man kann nicht umhin, sich zu fragen, was passiert, wenn das Mädchen in gar nicht mal so vielen Jahren den Babyspeck verliert und zu einer echten Southern Belle heranblüht, die in allen Irrungen, Wirrungen, Pickeln und sonstigen Unsicherheiten der Pubertät den ersten Freund mit nach Hause bringt. Wie wird’s ihr gehen, wenn dieser Freund Sekunden vor dem ersten Kuss plötzlich einen Moment der Erinnerung hat und sagt: „Bist du nicht das Mädchen, das im Fernsehen mal gesagt ‚Mein neues Geschwisterchen ist so klein – ich habe schön größer gesch***‘?“
Die Lütte tut mir jetzt schon leid.