Sonntagszwischenruf

20141109-1Heute: Die Mauer ist weg?

Es gibt Daten, die sich ins kollektive Gedächtnis eingraben. „Wo warst du, als Kennedy ermordet wurde?“ oder „Wo warst du am 11. September?“ etwa, und als Antwort gibt es von den Befragten stets eine ausgiebige, lebendige Geschichte. Natürlich auch zum 9. November 1989.

Heute vor fünfundzwanzig Jahren öffnete sich also die Mauer, und ich weiß… von nix mehr. Da bin ich Zeuge eines der wichtigsten, tollsten Ereignisse meiner Zeit geworden, aber ich kann nur noch die Äußerlichkeiten nachlesen, mir Bilder und Filme anschauen von überfüllten Zügen, von den langen Schlangen an den Grenzübergängen, von Freudentränen vergießenden Menschen sowie den Erzählungen anderer Zeitzeugen zuhören.

Doch an meinen eigenen Platz in dieser so wichtigen, spannenden Zeit fehlt mir jede Erinnerung. Gut, ich war erst sechzehn, aber ich war politisch/historisch informiert, interessiert und wusste oft besser über das aktuelle Tagesgeschehen Bescheid als meine Altersgenossen. Habe ich mich gefreut, als ich und alle um mich herum allmählich realisierten, dass Freunde und entfernte Verwandte aus Potsdam, Rostock und Stralsund uns jetzt einfach so nach Lust und Laune besuchen konnten, ohne Fragebögen auszufüllen und gar auf eine Erlaubnis zu warten? Bestimmt. Habe ich an jenem 9. November 1989 vor dem Fernseher gesessen und mit offenem Mund staunend das Geschehen der Liveberichte verfolgt? Ganz sicher. Aber ich habe kein Gefühl mehr dafür.

Ich schaue mir das alles an wie Wochenschauberichte vom Tag der Befreiung 1945, von der Eröffnung der Fährlinie Großenbrode Kai – Gedser 1951 oder vom Eurovision Song Contest 1957 in Frankfurt. Es hat stattgefunden, aber ohne mich.

Ausgerechnet bei 1989 klafft bei mir also eine große Lücke, obwohl ich sonst das sprichwörtliche Erinnerungsvermögen eines Elefanten habe. Die Worte von Hans Dietrich Genscher auf dem Balkon in Prag, die Montagsdemonstrationen in Leipzig und schließlich der Mauerfall… Wann, wo und wie ich all das, was in jenem turbulenten Jahr passiert ist, erlebt habe, wie ich dabei empfunden habe – es ist nicht mehr da. Übrigens nicht nur in dieser großen historischen Dimension. Auch wenn ich auf alte Fotos von der Studienfahrt mit meiner wirklich plietschen und tollen Klasse von der Handelsschule, private Urlaubsfotos oder in jenem Jahr gekaufte Bücher und CDs schaue, dann ist es, als wäre der Ordner für 1989 auf meiner mentalen Festplatte zwar noch da, aber ohne Inhalt. Dabei war es eigentlich ein gutes Jahr, und heißt es in diesem Lied The Way We Were nicht, dass wir das Schmerzhafte vergessen, das Gute dafür umso intensiver erinnern?

Ich hab‘ mal im Freundeskreis rumgefragt. Fast jeder hatte auch so ein Jahr, das er/sie – obwohl es wirklich gute zwölf Monate waren – beim besten Willen nicht mehr auf dem Schirm hatte. Es scheint also kein Einzelphänomen zu sein, ich bin quasi in bester Gesellschaft. Dass es mir ausgerechnet mit 1989 passieren musste, ist trotzdem blöd. Gerade heute würde ich mich gerne nochmal drauf besinnen, wie’s damals gewesen ist. Da draußen sind tausende Geschichten, die schon erzählt sind, die aber auch noch erzählt werden müssen, und ich würde gerne dazu beitragen. Geht aber nicht, und das wurmt mich.

PS: Lasst uns bei aller Feierei des Jahres 1989 bitte auch bedenken, was einundfünfzig Jahre davor geschehen ist, also am 9. November 1938. Stichwort Novemberpogrome. Auch hier sollte man einen Moment innehalten und dran denken, was sich da zugetragen hat. Damit uns die Geschichte keine Wiederholung aufdrängt…

Von der Themse an die Newa

Nach Those Who Hunt the Night und Travelling With the Dead nun meine Eindrücke zum 3. Abenteuer mit dem Oxford-Professor und Spion im Dienst Seiner Majestät a. D. James Asher und dem spanischen Vampir Don Simon Xavier Christian Morado-de la Cadena Ysidro,

Blood MaidensBlood Maidens (noch nicht in dt. Übersetzung erschienen) von Barbara Hambly

Worum geht es? Erneut wird James Asher zum Verbündeten von Don Ysidro. Dieser benötigt Hilfe, weil eine Freundin von ihm (und wie Asher vermutet: mehr als das), in St. Petersburg verschwunden ist. Ein Eindringling will scheinbar dem Meistervampir von St. Petersburg das Territorium streitig machen. Dabei stellt er sich einerseits sehr ungeschickt an: All seine neuen Zöglinge werden umittelbar nach ihrer Erschaffung wieder vernichtet. Andererseits ist er so geschickt darin, seine Spuren zu verbergen, dass selbst die ältesten Vampire St. Petersburgs und der Städte, die er auf seinem Weg in die Newa-Metropole durchkreuzt hat, trotz ihrer hochentwickelten Fähigkeiten seine Präsenz zwar spüren, doch ansonsten nichts weiter herausfinden konnten. Wer ist dieser Eindringling mit den neuen, hochentwickelten Fähigkeiten? Was hat der Geheimdienst des auf Krieg gebürsteten deutschen Kaisers damit zu tun? Und was ist mit dem Aspekt, dass Vampire – entgegen aller bisherigen Aussagen von Don Ysidro – scheinbar doch Freundschaft und Liebe empfinden können? Während Professor Ashers Frau Lydia in St. Petersburg wieder einmal die zuverlässige Rechercheurin gibt, jagen Asher und Ysidro quer durch Europa, um über Informanten in Berlin, Prag, Köln und Warschau das düstere Rätsel zu lösen.

Welchen Eindruck hinterlässt das Buch? Ich war ziemlich skeptisch, als ich Blood Maidens kaufte, denn es hat über fünfzehn Jahre gedauert, bis Barbara Hambly sich nach zahlreichen anderen Büchern endlich dem dritten Abenteuer für das Ehepaar Asher und Don Ysidro gewidmet hat. Würde es ihr gelingen, nach so langer Zeit an die großartige Atmosphäre der beiden vorherigen Bücher anzuknüpfen? Kurzum: Ja.

Der Plot setzt unmittelbar nach dem Ende von Band 2 (Travelling With the Dead) an und beinhaltet alle Elemente, welche die beiden vorherigen Bücher so lesenswert gemacht haben: Eine Story zwischen Vampirroman und Krimi (wobei Blood Maidens eher Elemente des Spionage-Krimis à la The 39 Steps beinhaltet statt wie zuvor des Gaslight-Krimis), die sich am Ende ganz anders auflöst, als es zu Beginn den Anschein hatte. Eine Story mit vielschichtig gezeichneten Charakteren, die sich glaubwürdig weiterentwickeln. Da ist auf der einen Seite die Zerrissenheit von Asher und seiner Frau Lydia zwischen dem unbedingten Pflichtgefühl, Vampire vernichten zu müssen, und dem merkwürdigen Gefühl, zu Don Ysidro eine Verbindung zu spüren, von der sie nicht wissen, ob da eine echte, wenn auch unheimliche Freundschaft erblüht, oder ob der Vampir ihre Gefühlswelt nur über seine Kräfte manipuliert.

Auf der anderen Seite ist da Don Ysidro, der zunehmend „menschlicher“ daherkommt und fast schon sympathische Züge entwickelt, was die innere Zerrissenheit des Ehpaares Asher für den Leser nur deutlicher macht. Auch die Feinde und Freunde, mit denen das Trio in Blood Maidens zusammentrifft, sind sehr komplex und detailliert von Hambly erschaffen worden.

Dazu gelingt es ihr, den geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der von ihr beschriebenen Epoche so perfekt recherchiert auf die Story zu übertragen, dass das St. Petersburg des Jahres 1911 in seiner ganzen Pracht und Düsternis mit allen gesellschaftlichen Details von den Armenquartieren bis zu den verschwenderischen Residenzen wiederaufersteht. Sie malt förmlich mit ihren Worten. Hier haben fünfzehn Jahre Pause keinerlei Rost an ihrer Erzählkunst angesetzt.

Doch leider hat auch ein Wehrmutstropfen überlebt: Wenn Barbara Hambly ihre Protagonisten wie die Kölner Vampirin Petronilla Ehrenberg oder auch Asher (der Deutsch angeblich so perfekt beherrscht, dass er selbst die feinen Nuancen verschiedener Stadtteile des Berliner Dialekts bis in einzelne Straßenzüge hinein unterscheiden und korrekt anwenden kann) Deutsch sprechen lässt, möchte man als deutscher Leser am liebsten in die Tischkante beißen. Hier stimmt wirklich nichts, und wieder fragt man sich: Warum hat das Lektorat nicht korrigierend eingegriffen?

Doch wenn man in diesem Punkt beide Augen ganz, ganz fest zudrücken kann, gibt es wirklich nichts an diesem Buch zu meckern.

Lesen ist Genuss – welche kulinarische Begleitung sollte es geben? Borschtsch. So rot wie Kommunismus ___, Blut ___, die immer selbe verdammte Ampel morgens auf dem Weg ins Büro ___. (Zutreffendes nach eigenem Gutdünken bitte selber ankreuzen)