Montagmorgen

Dieser Tage fällt es wirklich nicht leicht, mit einer positiven Grundeinstellung durch das Leben zu gehen. Zu vieles läuft quer, ist aus dem Ruder geraten, verweigert sich jedem gesunden Menschenverstand.

In diesem Gewirr liest man immer öfter die Frage „Was ist passiert in den letzten zehn Jahren? Warum hat der Wind sich wieder so zum Bösen gedreht?“

Ich weiß mit dieser Frage nicht immer etwas anzufangen. Als 1973 Geborener bin ich in einer unsicheren Welt aufgewachsen. Allein in meine ersten zehn Lebensjahre fallen der Mord an John Lennon, die Attentate auf Ronald Reagan, Anwar as-Sadat und Papst Johannes Paul II., das Oktoberfestattentat und ganz besonders diverse Gräueltaten der RAF. In der Luft lagen wirtschaftliche Unsicherheit durch die Schließung von Zechen, Stahlwerken, Werften sowie die Sorge um unsere Umwelt. Schwachsinn wie der § 175 machte das Schönste und Wichtigste strafbar, zu dem der Mensch imstande ist: Liebe. Hinzu kam die Angst vor einem Atomschlag durch wen auch immer –  Nord, Süd, Ost, West, ganz egal, sie alle waren beide gleich bescheuert in ihrem „Machtanspruch“ und den Drohgebärden.

Dann erschien um 1986 ein Mann mit einer sehr markanten Stirn auf der Bildfläche, der zwei merkwürdige Worte in den Sprachgebrauch auf der ganzen Welt einführte, die aber irgendwie die Hoffnung auf den Aufbruch in eine ruhigere, sichere Zukunft vermittelten.

Auf einmal schien die Welt tatsächlich ein bisschen vernünftig zu werden: Attentate wurden etwas weniger, die Kriegsgefahr geringer, für die Umwelt wurde mehr getan, man machte sich nicht nur vermehrt Gedanken um soziale Gerechtigkeit, sondern versuchte auch, sie umzusetzen. 1989 fiel die Mauer. Seit 1999 gab es die so genannte Hamburger Ehe, der 2001 die eingetragene Lebenspartnerschaft folgte. Eine vollständige Gleichstellung mit der altbekannten Ehe ließ und lässt auf sich waren, aber nach diesem guten Anfang trug man auch über fünfzehn Jahre hinweg die Hoffnung in sich, dass sich auch dieses Problem bald positiv erledigen würde.

Doch bereits 1991 wurde Hoyerswerda in die unrühmlichen Kapitel der Geschichtsbücher eingetragen. In diversen Ländern veränderten sich die Machtgefüge und machten Anstalten, auf den Blumen von Demokratie und Freiheit rumzutrampeln, noch bevor sie das erste Mal richtig geblüht hatten. Da kam etwas zurück, das man doch vor ganz kurzer Zeit noch hatte hinter sich lassen wollen.

In den letzten zwei, drei, vier, fünf Jahren dann wieder das extreme Erstarken von rechter Gesinnung, die ja leider nie ganz weg war. Länder wenden sich nun ganz offen von der Demokratie ab, Egoismus auf allen Ebenen scheint wieder wichtiger zu sein als Gemeinschaft, skrupellose Unternehmen wollen uns gegen den erklärten Willen der Mehrheit unter uns Menschen ihren genmanipulierten Dreck aufzwingen und uns weismachen, dass Trinkwasser kein Menschenrecht ist. Es hat ein beunruhigender Zulauf auf Parteien begonnen, die offen proklamieren, dass der § 175 vielleicht doch so keine so schlechte Idee gewesen ist und sie ihn möglichst verschärft zurückbringen wollen, Hass auf freiheitlich Denkende ist wieder en vogue geworden. Die Krawalle bei Sportveranstaltungen durch gewaltbereite Idioten, die sich zu Unrecht mit dem Sobriquet „Fan“ schmücken, nehmen wieder so zu, dass es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis sich die Katastrophe von Heysel wiederholt. Unschuldige Menschen verlieren ihr Leben durch sinnlose (Selbst-)Mordtaten, begangen von Lebewesen, die nicht mal ein eigenes schlüssiges (?) Motiv haben, sondern sich etwas von anderen einflüstern lassen.

Und dann kommt wieder die bereits erwähnte Frage „Was ist passiert in den letzten zehn Jahren? Warum hat der Wind sich wieder so zum Bösen gedreht?“

Es gibt Momente der Ohnmacht, in denen ich mir zusammenrechne, wie viel wirklich ruhige Zeit oder zumindest eine Zeit des hoffnungsvollen Aufbruchs in der Weltgeschichte ich erlebt habe. In ganz pessimistischen Momenten komme ich dann tatsächlich nur auf die Zeit von 1986, als das ich zum ersten Mal die Worte „Glasnost“ und „Perestroika“ hörte, bis etwa ein Jahr nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. Sechs Jahre auf dreiundvierzig insgesamt.

Scheiße, ist das wenig.

Im Stillen stelle ich mir dann manchmal die Frage, ob der Wind of Change je wirklich ein Wind war und nicht nur eine kurze Brise, die nie richtig zum Wehen kam. Und vielleicht auch nie richtig zum Wehen kommt. Denn ist das, was gerade passiert, nicht etwas, das ich eigentlich schon mein ganzes Leben lang kenne? Ich überrasche mich selber bei dem Gedanken, dass ich so gut wie gar nicht nachvollziehen kann, warum zumindest meine Generation und die davor sowieso sich gerade verhalten, als wären Attentate, Kriege, bedrohliche Situationen durch Diktaturen etwas neues. Um die Youngster – gerade die, die um 1989 geboren wurden – tut es mir verdammt leid. Manchmal könnte ich echt heulen, denn die haben wirklich anderes erlebt und für sie dreht sich der Wind gerade gewaltig. Aber für mich stelle ich manchmal nur die Wiederherstellung eines mir bekannten Zustandes fest.

Fuck.

Denn es ist kein Zustand, bei dem die Wiederherstellung etwas Beruhigendes hat. Weit gefehlt. Und ich frage mich, warum ich in den 80ern auf Demos gegen Atomwaffen, Kernreaktoren und Unrechtsstaaten gegangen bin.

Weil es richtig war. Weil es was gebracht hat. Weil es jetzt wieder richtig ist. Weil es wieder etwas bringen wird.

Es kann gar nicht oft genug gesagt werden, dass Frieden und Freiheit Dinge sind, für die permanent gearbeitet werden muss. Sie sind nichts, bei dem man die Hände in den Schoß legen kann, sobald es mal ein bisschen ruhig auf der Welt geworden ist. Ruhe kann so trügerisch sein – wir sehen es jetzt gerade.

Was kann man also tun? Letzten Endes nichts anderes, als sich nicht damit abzufinden, was gerade geschieht. Sich keinen Knebel anlegen zu lassen. Nichts ist gefährlicher für Freiheit und Demokratie als Stille.

Darum heißt es, den Mund aufzumachen. Nicht als einmaliger Aufschrei, wenn gerade wieder irgendwas passiert ist, denn dass um Opfer von Attentaten, Gesetzeswillkür, Diktaturen etc. getrauert wird, ist doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die nicht betont werden muss. Doch es ist unerlässlich, als dauerhaftes Geräusch präsent zu sein. Auch wenn man sich mit dem, was man sagt und tut, vielleicht wiederholt. Völlig egal. So wird man quasi der Tinnitus, welcher das Böse unter der Sonne irgendwann so mürbe macht, dass es seine Kraft einbüßt.

Das alles im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Ganz egal, ob große Geste, die von tausenden Menschen wahrgenommen wird, oder das Wirken im eigenen Mikrokosmos, das nur von ein paar Menschen im direkten Umfeld wahrgenommen wird – für alle gilt dasselbe: Bangemachen gilt eben nicht.