Ausnahmezustand

Die Stille war gespenstisch, kein Mensch zu sehen. Kein Auto fuhr, kein Hund bellte, nicht mal ein eScooter rollte sirrend vorbei. Die Nachbarschaft war wie ausgestorben. Viele hatten das Haus erst kurz vor der Deadline um acht Uhr verlassen, andere hatten die Gelegenheit genutzt und waren schon am Sonnabend oder gar am Freitag in einen Wochenendurlaub aufgebrochen.

Am vergangenen Sonntag herrschte Ausnahmezustand bei uns im Quartier. Um die 14.000 Anwohner sowie die Patienten diverser Krankenhäuser und Seniorenheime waren evakuiert worden, weil man gleich vier mutmaßlichen Weltkriegs-Blindgängern auf der Spur war. Ganze Straßenzüge mussten dafür geräumt werden, nicht einmal die Autos durften auf den Parkstreifen stehen bleiben. An einigen Stellen waren zusätzlich zweigeschossige Sperren aus Containern aufgestellt worden, die nicht nur unbefugtes Betreten des Gefahrenbereiches verhindern sollten, sondern auch im schlimmsten Fall die Wucht einer Explosion abfangen.

Unser Haus gehörte zu den ersten fünf oder sechs in unserer Straße, die nicht mehr von der Räumungsaufforderung betroffen waren. Mein Mann und ich waren deshalb nicht alleine an diesem Sonntag. Wir hatten einen Freund zu Gast, den es mit der Evakuierung voll erwischt hatte. So saßen wir ab acht Uhr morgens da und harrten der Dinge. Statt des für ganz NRW zuständigen Radiosenders hörten wir den städtischen Lokalsender und lauschten den Nachrichten. Zwischendurch überlegten wir, ob wir zum nahegelegenen Westfalenpark spazieren sollten, doch dafür hatten wir dann doch nicht die nötige Ruhe.

Es blieb da einfach ein mulmiges Gefühl – nicht mehr dabei und doch noch ganz nah dran. Im Ernstfall würde sich die Druckwelle der Explosion bestimmt nicht an den von der Stadt gezogenen Grenzen des Bannkreises halten. Wären diese groß genug gezogen – oder müssten wir auch noch mindestens um unsere Fensterscheiben fürchten?

Natürlich sagt man sich: Die Leute bei den Entschärfungstrupps sind Profis, und wir hatten solche Situationen schon mehrmals hier, da ist bisher nie was passiert. Aber man hat auch im Hinterkopf: Einmal ist immer das erste Mal.

Und so blieb die Grundstimmung des Tages immer ein bisschen merkwürdig, beständig abwartend. Am Ende war da Erleichterung, als sich von den vier Verdachtsfällen nur zwei bestätigten und bereits gegen siebzehn Uhr die erfolgreiche Entschärfung nebst vermeldet wurde. Wir hatten uns nämlich auf die vorsichtig angedeutete Möglichkeit eingerichtet, die ganze Aktion könne bis weit in die Nacht dauern. Doch plötzlich war die Sperrung aufgehoben, alle konnten wieder in ihre Wohnungen zurück. Auch unser Freund machte sich um kurz vor sechs wieder auf den Weg in seine eigenen vier Wände, um die Nacht in seinem eigenen Bett zu verbringen statt auf unserem Sofa.

Auf keinen Fall will ich das, was wir erlebt haben, mit dem vergleichen, was die Menschen zwischen 1939 und 1945 bei jedem Fliegerangriff durchgemacht haben. Wir mussten nicht alles stehen und liegen lassen, weil der Fliegeralarm aufheulte, und mit unseren wichtigsten Papieren in den nächstgelegenen Bunker türmen, um dort zwischen lauter Fremden angstvoll darauf zu hoffen, dass nicht nur alles schnell vorbei sein möge, sondern dass wir nach Ende des Alarms unser Zuhause auch wieder vorfinden würden.

Ich kann mir nicht mal annähernd ausmalen, wie schrecklich das damals gewesen sein muss, und mir ist klar, dass dieser vergangene Sonntag ein absoluter Spaziergang war.

Trotzdem bleibt ein unangenehmes Gefühl zurück. Vor 80 Jahren stand der Faschismus in voller Blüte, 75 Jahre liegt 2020 der Tag der Befreiung am 8. Mai zurück. Vorbei ist es aber noch lange nicht. Die Folgen dieses Irrsinns verfolgen uns weiter. Noch immer liegen an unzähligen Stellen Blindgänger, die uns weiterhin in Atem halten werden und immer wieder daran erinnern, wohin blinder Hass und Größenwahnsinn führen. Es ist nicht abzusehen, wann jemals der letzte gefunden und unschädlich gemacht sein wird. Böses bläst einem seinen fauligen Atem viel zu lange in den Nacken. Das sollte uns eine Mahnung sein.