Komm kein bisschen mit nach Italien

aus der Reihe ›Urlaub in den 70ern und 80ern‹

Abenteuerlust gehört nicht zu den großen Stärken in meiner Familie. Bei uns hat noch nie jemand den langweiligen Job in der Kfz-Zulassungsstelle für ein Sabbathjahr ruhen lassen, um barfuß von Palermo nach Trondheim zu wandern. Wer sich im Rahmen sportlicher Aktivität sämtliche Knochen bricht, beklagt das als Kollateralschaden beim Fußball auf dem nachbarschaftlichen Bolzplatz, nicht beim Freeclimbing am Popōcatepētl. Entsprechend gefahrlos ist die Reiseplanung.

Als meine Eltern, also Muddi und Paps, im Januar 1970 heirateten, erforderte der notorisch klamme Geldbeutel, dass die Flitterwochen in Begleitung zahlungskräftiger Sponsoren stattzufinden hatten. Das waren in der Hauptsache Muddis Eltern – welche mir wiederum als Omma und Oppa bekannt waren. Apropos Omma und Oppa – genau so wurden ihre familiären »Dienstgrade« bei uns ausgesprochen. Väterlicherseits gab es die Ohma, was nichts mit Georg Simon Ohm zu tun hat, mit dem man im Physikunterricht gequält wird. Es hatte sich zur besseren Unterscheidung einfach so ergeben.

Wer den Geldbeutel öffnet, bestimmt gemeinhin auch, wo es hingeht. Das kann in diesem Fall nur Omma gewesen sein. Oppa war nur auf der Steuererklärung das faktische Familienoberhaupt. Außerdem hatte er – es muss gesagt sein – nicht gerade die vielgerühmte deutsche Tüchtigkeit erfunden. Oppa war zwar Beamter bei der Deutschen Bundesbahn und verdiente als solcher nicht schlecht, aber er sammelte auch Krankschreibungen wie andere Leute Briefmarken. Sein wichtigstes Lebensziel hatte er dann auch 1978 mit seiner Frühpensionierung im Alter von zweiundfünfzig Jahren erreicht.

Folglich hatte Omma neben den traditionellen Pflichten einer Hausfrau ihrer Generation auch jene an der Backe, die der damaligen Lesart entsprechend dem Mann im Haus vorbehalten waren. Das ermöglichte ihr weitestgehend freie Hand bei der Urlaubsgestaltung. Es gab im Grunde nur eine Einschränkung.

Oppas großzügige Beamtenbezüge hatten ihn nicht nur zum Nutznießer des Wirtschaftswunders gemacht, sondern zum aktiven Mitgestalter. Er war der erste, der in der ehemaligen Zechensiedlung ein Auto der oberen Mittelklasse fuhr – zwar „nur“ ein Opel Rekord und nicht der heiß ersehnte Mercedes, aber immerhin fabrikneu. Er war auch der erste, der später einen Farbfernseher anschaffte und noch später einen Videorecorder. Butter aufs Brot und echten Bohnenkaffee gab es an normalen Werktagen ebenso wie am Wochenende. Doch obwohl Omma und Oppa eine bemerkenswerte Menge Vinyl und Schellack mit Liedern über die neuentdeckte Reiselust der Deutschen in den 1950ern im Plattenfach ihrer Musiktruhe stehen hatten, wären sie nie auf die Idee gekommen, Caterina Valentes gesungener Einladung Folge zu leisten, sie ein bisschen nach Italien zu begleiten.

Ein Urlaub jenseits des germanischen Sprachraums war nämlich absolut undenkbar. Schon die regelmäßigen Besuche in den Niederlanden waren ein Graus für Oppa. Unsere Verwandten dort waren des deutschen Idioms zwar mehrheitlich mächtig und die übrigen konnten es zumindest radebrechen, doch viel zu oft traf man auf andere Einheimische, die gar nicht daran dachten, mit Besuchern aus Deutschland in deren Sprache zu reden. Es gab da ein paar durchaus berechtigte Ressentiments aus alter Zeit, die sich auch mit völkerverständigenden Maßnahmen wie dem Grand Prix Eurovision de la Chanson nicht so einfach lösen liesen, und Oppa war das gute alte Motto „When In Rome, Do As The Romans Do“ gänzlich fremd. Er wäre lieber im Erdboden versunken, bevor er sich bei einem Niederländer statt mit einem preußisch-knappen „danke“ mit einem nun wirklich nicht allzu schweren „dank U wel“ für eine erwiesene Gefälligkeit erkenntlich gezeigt hätte.

Allenfalls das Nachbarland Österreich fand noch Gnade vor seinen Augen, und dort landete man auch. Eine offenbar gelungene Wahl, wie zahlreiche Bilder von tiefenentspannten Urlaubern in längst vergilbten Fotoalben belegen. Ergo lenkte Oppa seinen Opel Rekord auch im folgenden Jahr gen Oberösterreich, und erst nach dem dritten Jahr in Folge am Attersee wurde der folgenschwere Satz „Ich will mal auch was anderes sehen als immer nur Berge!“ geäußert.

Wie Omma mit Oppas eng gesteckten Vorgaben ein neues Ferienziel ausklamüsert hat, ist heute nicht mehr überliefert. Eine an den Stamm der dicken Schwarzwaldtanne im Garten gepinnte Deutschlandkarte zur Zielbestimmung per Dartwurf kann getrost ausgeschlossen werden. Dabei wäre das in unserem Vorort vom Vorort einer nicht ganz kleinen Stadt eventuell die einfachste Lösung gewesen. Durch die nicht zu leugnende Rückständigkeit gepaart mit einer sehr ländlichen Topographie sprach der Volksmund der ehemals eigenständigen Ortschaft auch lange nach der Eingemeindung immer noch vom Leben „bi uns op’n Dörp (bei uns auf’m Dorf)“ Genauer gesagt: Er tut’s bis heute.

In den 1970ern bedeutete „op’n Dörp“ zu leben genau das, was diese Phrase heute in romantischer Verklärung nur noch andeutet: Die Geschäfte längs der Hauptstraße machten von zwölf bis drei Mittagpause. Während dieser Zeit galt ohnehin die allgemeine Mittagsruhe, und wehe, es wurde währenddessen auch nur zu laut gehustet. Der Bus in die nächstgelegene Zivilisation hatte einen sehr dünnen Fahrplan, und wenn er tatsächlich mal kam, musste man auch noch ein lebendiges Karnickel auf die Straße werfen, damit er überhaupt anhielt. Der Bahnhof des Nachbardorfes war schon im Jahrzehnt zuvor stillgelegt worden. Der Friseur kannte ausschließlich Dauerwelle für die Damen und Fassonschnitt für den Herren, das Zeitalter von Vokuhila und Irokese war noch nicht angebrochen. Geschäfte für Spezialbedürfnisse wie eine Pizzeria oder ein Café mit Latte Macchiato & Co. existierten nicht. Immerhin gab es am Ortsrand einen ehemaligen Gasthof, der mit stets heruntergelassenen Jalousien und einer roten Laterne neben der Eingangstür seinen Geschäftszweck ziemlich genau erahnen ließ.

Nun erstetzt ein Puff nicht das fehlende Reisebüro, deshalb liegt der Schluss nahe, dass Omma auf das bewährteste Hilfsmittel des Landlebens zurückgegriffen hat. Mund-zu-Mund-Propaganda beschafft seltene Ersatzteile für Maschinerie aller Art und versieht den hoffungsvollen Thronfolger von Bauer Piepenkötter nicht nur mit Tanzschulpartnerin, sondern auch in weiterer Entwicklung mit der künftigen Gemahlin. Die Suche nach einem geeigneten Urlaubsort ist dann auch prompt eine der leichtesten Übungen. Irgendeine Nachbarin wird es schon gewesen sein, die den heißen Tipp mit dem Seebad an der Lübecker Bucht gegeben hat.

Seit 1974 macht eigentlich immer jemand aus unserem Clan in dem kleinen verschlafenen Nest an der Ostsee Urlaub. Die 1970er und 1980er waren die schönste Zeit dafür. Müsste man eigentlich mal von erzählen, wie wir ohne Internet, Netflix, Navigationsgeräte und E-Scooter ausgekommen sind und trotzdem – oder gerade deswegen? – eine verdammt tolle Zeit hatten. Dank Corona spielt sich das Leben ja im Moment sowieso hauptsächlich innerhalb der vier Wände ab – die ideale Gelegenheit, sich hinzusetzten und drauflos zu tippen. Vielleicht wird sogar ein neues Buch draus.


Außerdem in dieser Reihe:

Wie man sich bettet… – Über die Ausstattung einer Ferienwohnung in den 1970ern

Schiff ahoi! – Warum das „Butter“ in „Butterfahrten“ nicht so wirklich passend war.

2 Kommentare zu “Komm kein bisschen mit nach Italien

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