Das Gekrakel von Delphi

„Vom Grips her mag es nicht gereicht haben, aber von der Sauklaue her könnte er Arzt sein.«

Ein wenig schmeichelhaftes Bonmot, aber leider auch irgendwie passend. Meine Schwester hat es irgendwann geprägt, als ich den familiären Einkaufszettel im Elternhaus um ein paar von mir gewünschte Artikel ergänzt hatte und niemand so recht schlau daraus wurde, was da eigentlich haben wollte.

Als Kind der 1970er Jahre gehöre ich zu einer Generation, die nicht nur von den Eltern er– und manchmal auch verzogen wurde. Es gibt ja dieses Sprichwort, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind anständig aufwachsen zu lassen. So intensiv war es dann bei uns auch wieder nicht, aber zumindest der restliche Teil der Verwandtschaft, in der Hauptsache durch Großmütter und ältliche Tanten vertreten, ließ es sich nicht nehmen, gründlich darin herumzupfuschen, wenn es darum ging, einem jungen Menschen beizubringen, was ihn im Leben erwartete bzw. was von ihm erwartet wurde. Individualität wurde nicht nur nicht wirklich gefördert, sie wurde oft genug auch ganz entschieden unterbunden. Wert wurde vor allem darauf gelegt, dass das Kind die ihm eingetrichterten Manieren einwandfrei beherrschte.

Nun sind gute Manieren an sich ja nicht wirklich etwas Verkehrtes, im Gegenteil. Es sei nur lediglich die Überlegung gestattet, inwieweit Details wie Knicks (bei den Deerns) und „Diener“ (bei den Jungs) damals schon wirklich noch einen Sinn ergaben oder nur Relikte einer längst vergangenen Zeit waren. Allein schon das Wort „Diener“ (= dienen, sich unterwerfen) haut mir ein bisschen die Galle ans Zäpfchen.

Meine Eltern waren dann auch strikt dagegen und verboten mir und meiner Schwester regelrecht, uns das aufdiktieren zu lassen. Besonders in Bezug auf meine Schwester etwas, womit gerade die ältesten der Tanten haderten, sahen sie in einem weiblichen Abkommen doch abwechselnd die legitime Nachfolgerin von Romy Schneider in der (von selbiger so verachteten) Sissi-Rolle oder eine patente und grundsolide Sekretärin, die ihren Chef ebenso treu wie zuverlässig nicht nur an seinen Hochzeitstag erinnern, sondern ihm auch noch die passenden Geschenke besorgen würde.

Bei mir waren diese Tanten nicht ganz so streng, waren sie doch alt genug, um mich ebenso in der Rolle eines Grandseigneurs wie Johannes Heesters zu sehen, aber auch modern genug, um mir die Rolle des leicht rebellischen, dabei aber immer noch wahnsinnig netten Peter Kraus zuzubilligen, der sich irgendwann besinnen würde und einen richtigen Männerberuf ausüben würde. Jungs sind eben Jungs, die müssen sich austoben, bevor was aus ihnen wird!

Zu dumm nur, dass meine Schwester sich am liebsten mit Jungs prügelte und am Ende eine Lehre zur Malerin und Lackierin absolvierte, also Handwerkerin wurde (und das als Mädchen – her mit dem Riechsalz!), während ich die Bürohusche wurde.

Verflixt, wie bin ich eigentlich jetzt schon wieder soweit vom Weg abgekommen? Ich wollte doch ganz was anderes erzählen?!

Ach, so – die Sache mit der Erziehung. Laut der großartigen Vera F. Birkenbihl ja genau das, was die ideale Entwicklung unserer Persönlichkeit verhindert. In meinem Fall hat es auch eine vernünftige Handschrift verhindert. Ich gehöre nämlich zu der letzten Generation, die verbissen auf „das schöne Händchen“ dressiert wurde, sprich: Als Linkshänder galt man während meiner Kindheit fast schon als behindert. Linkshänder zu sein war ein Makel, und als erstes wurde einem abtrainiert, jemanden mit der linken Hand zu begrüßen. Dass diese doch eigentlich jene ist, die dem Herzen am nächsten liegt, wurde dabei geflissentlich ignoriert.

Mit dem Eintritt in die Schule kam dann auch die Sache mit der Schreiberei auf die Tagesordnung. Mit links zu schreiben ging ja mal so gar nicht! Ergo wurde man auf „das schöne Händchen“ umtrainiert und die anfangs recht ansehnliche Handschrift verwandelte sich in etwas, das auf ewig davon ausgeschlossen sein würde, Preise für Schönschrift einzuheimsen. Obwohl es die sogenannten Kopfnoten, denen unsere Eltern noch ausgesetzt waren, zu jener Zeit gar nicht mehr gab und ihre Wiedereinführung auch noch nicht zur Diskussion stand, bestand mein Deutschlehrer in der Realschule darauf, die Gesamtnote für einen Aufsatz aus den drei Einzelnoten für die Komponenten Fehler – Inhalt – Schrift zusammenzusetzen. Folglich bekam ich so manchen Aufsatz mit den Teilnoten 2 – 1 – 5 zurück.

Auch heute noch erschließt sich meine Handschrift eigentlich nur engsten Eingeweihten auf Anhieb, was meine Schwester zum eingangs genannten Spruch veranlasste. Problematisch wird es erst, wenn ich selbst an dem scheitere, was ich da mit Kugelschreiber, Bleistift, Tafelkreide oder ähnlichem Gerät verzapft habe.

Der Sonntag ist für gewöhnlich der Tag, an dem mein Mann und ich Prospekte wälzen, um das Haushaltsbudget und den Speiseplan für die kommende Woche erstellen. Beim letzten Mal dauerte das etwas länger, da wir uns zusätzlich auf das Menü zu unserem bevorstehenden Hochzeitstag vorbereiteten. Wir kamen auch zu einem Ergebnis, hatten es aber beide am Montag schon wieder vergessen. Das führte zu einigen Ungereimtheiten, als sich auf dem Speiseplan der befremdende Eintrag Fontanelle Balu – Rabiat? fand.

„Was haste denn da wieder verzapft?“, begehrte mein Mann zu wissen.

„Bin ich das Orakel von Delphi?“

„Nee, aber das Gekrakel!“

Peinliche Stille senkte sich über die Küche, als ich versuchte, mein eigenes Gekritzel zu entziffern.

„Was wolltest du denn nochmal essen?“ versuchte ich, das Feld der Möglichkeiten einzugrenzen.

„Da war so einiges, aber ich weiß doch jetzt nicht mehr, wofür wir uns entschieden haben!“

Halbherzig gingen wir noch einmal ein paar Gerichte durch, aber weder Coq au vin noch Grünkohl (Nur über meine Leiche!) norddeutscher Art mit dem berühmten Pinkel ähnelten optisch dem, was da auf dem Zettel stand. Erst, als ich zwei Stunden später durch den Supermarkt tigerte und an der Fischabteilung vorbeikam, machte etwas ganz, ganz leise Klick in meinem Oberstübchen.

Könnte es sein, dass Forelle Blau – Rezept? gemeint war?

Rätsel aufgeben? Kann ich!


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