Der tapfere kleine Weihnachtsbaum

Lachen und Weinen liegen so oft dicht beieinander, und gerade jetzt die letzten Tage sind eine absolute Achterbahnfahrt. Nach den Ereignissen bei uns in den letzten Wochen brauche ich mich kaum wohl darüber zu wundern, dass ich mich mit der Weihnachtsstimmung in diesem Jahr ein bisschen schwer tue. Die Platten von Doris Day und Freddy Quinn sind noch nicht gelaufen, und ob wir dieses Jahr an Heiligabend vor der Bescherung wirklich traditionell unser dreißig Minuten langes Liegblingsweihnachtsmärchen schauen, steht noch in den Sternen. Mir wird jetzt schon ganz anders bei dem Gedanken an die letzte Szene mit Trevors Weihnachtsüberraschungsbesuch bei seiner Mammy Agnes in Dublin…

In den letzten Tagen sind Weihnachtskarten für mich angekommen, das vermute ich wegen der entsprechenden Umschlagfarben und Motivaufkleber. Ich weiß nicht von wem sie sind, weil keine Absender drauf stehen. Vielleicht öffne ich sie wie in jedem Jahr an Heiligabend beim Frühstück, vielleicht öffne ich sie kurz nach Weihnachten, vielleicht erst im nächsten Sommer, vielleicht auch gar nicht. Es ist Scheu vor dem, was die liebgemeinten Worte mit mir machen könnten. Ich kann darum jetzt und hier erstmal nur blinde, aber von Herzen kommende „bannig lieben Dank“-Grüße in die Welt hinausschicken und hoffen, dass sie von den Absendern der Weihnachtskarten gelesen werden.

Das ist die eine Seite: Alles ist irgendwie aus den Fugen geraten.

Dann passieren Dinge wie gestern: Da kriegt man plötzlich einen dieser Anfälle von Aufräum- und Putzwut. So geschehen bei meinem Mann. Der Keller musste es sein. Klar. Sicher. Fünf Tage vor Heiligabend. Also ehrlich – sein Herz mag er ja am rechten Fleck haben, aber das zerebrale Zentrum für gute Ideen scheint ihm manchmal regelrecht verlustig zu gehen. Ich hoffe, er kommt nicht noch auf den Einfall, das eigentlich für den Frühling geplante Tapezieren des Schlafzimmers vorzuziehen…

Auf jeden Fall war er den ganzen Tag beschäftigt, ich ging derweil meinen eigenen Aufgaben nach, was u. a. diverse aushäusige Besorgungen beinhaltete. Zum Abschluss gab es Latte Macchiato in einem meiner Lieblingscafés, dann ging ich nach Hause. Ich war nur noch gute fünfhundert Meter von unserer Haustür entfernt, als mein Mann mich auf meinem Ackerschnacker anrief – ob ich noch eine Tüte Gummiteddies mitbringen könnte. Zu spät, ich war schon an allen Supermärkten längs des Weges vorbei. Doch ich hatte von selbst dran gedacht, folglich war mein Mann noch seliger als er es durch sein wirklich beachtliches Tagewerk ohnehin schon war. „Ich hab‘ auch den kleinen Weihnachtsbaum zum Verschenken an die Straße gestellt.“

„Hä? Was für’n kleiner Weihnachtsbaum?“

„Na, der kleine, den ich mir damals für meine erste eigene Wohnung gekauft habe. Ich wusste, dass ich den noch irgendwo hatte – aber der war natürlich in der hintersten Ecke vom Keller vergraben.“

„O Göttergatte, du sprichst in Rätseln. Der Weihnachtsbaum von deinen Eltern ist größer als ich – und spar dir die blöden Witze wegen meiner lausigen eins dreiundsiebzig! Du hast sie alle durch. Jedenfalls haben wir keinen kleinen Weihnachtsbaum?“

Er insistierte: „Dooohoooch – so ein wirklich winziger, nur vierzig, fünfzig Zentimeter hoch, was für den Wohnzimmertisch oder so…“

„So einer mit ’ner Kette aus höchsten zehn, zwölf bunten Lichtern drin, aber keine Kugeln?“

„Genau so einer!“

Nun lässt sich über Geschmack bekanntlich streiten, und für manche Leute sind diese Dinger bestimmt der Gipfel an weihnachtlicher Scheußlichkeit. Aber für mich sind damit ganz konkrete, wunderschöne Weihnachtserinnerungen verbunden. Stichwort: Die Salami in der Sahnehülle.

Zu dieser Salami gehörte auch ein Onkel, den man durchaus als gut situiert bezeichnen konnte. Darum war es immer ein bisschen merkwürdig, wenn man an Weihnachten bei ihm in die gute Stube kam, denn dort war kaum festlich geschmückt. Nur auf der riesigen Anrichte aus Kirschbaumholz massiv, in deren Fächern das gute Porzellan gelagert wurde (Maria weiß mit allem nötigen und unnötigen Drum & Dran für 36 Personen – bi uns op’n Dörp haben die Landwirte bei großen Festen eben geklotzt, nicht gekleckert!) stand so ein mickriger künstlicher kleiner Weihnachtsbaum wie oben beschrieben. Etwas aufwändigeres war auch gar nicht nötig, denn der richtige Weihnachtsbaum stand draußen.

Das Haus meines Onkels war auf einem Hügel erbaut, der mir als Kind riesig vorkam. Heute weiß ich, dass der Höhenunterschied zum „Tal“ keine anderthalb Meter betrug, sonst hätten auch kaum sechs Treppenstufen gereicht, um von der Terrasse nach unten in den Garten zu kommen, aber damals war es eben ein richtiges Tal für mich. In eben diesem Tal stand ein fünf Meter hoher Tannenbaum, der nur mit einer weißen Lichterkette geschmückt war. So schlicht, dass selbst die hanseatisch bescheidene Alstertanne in Hamburg dagegen wie ein Protzwerk daherkam, aber das machte die Weihnachtsstimmung um so schöner. Überhaupt konnten einem bei einem solchen Anblick die ganzen Weihnachtsmärkte in Berlin, Hamburg, Köln und bis in die kleinsten Kuhdörfer hinein gestohlen bleiben: Vom großen Panoramafenster im Wohnzimmer aus in dieses kleine Tal blicken und den Weihnachtsbaum sehen. Und damals hatten wir noch richtigen Winter an  Weihnachten und brauchten nicht nur von White Christmas Just Like The Ones We Used To Know zu träumen. Wenn dann noch dahinter auf den großen Feldern unseres Onkels Rehe zu sehen waren…

Trotzdem hatte ich mein Herz irgendwie an diesen kleinen bunten, sich so tapfer behauptenden Plastikbaum im Wohnzimmer verloren, und ich wusste: So einen möchte ich auch mal haben. Doch es ist nie dazu gekommen, dass ich mir wirklich einen gekauft habe. Auch nicht, seit ich mit meinem Mann zusammen bin, was inzwischen fast neunzehn Jahre währt. Mal wurde es schlichtweg vergessen, mal hatten wir andere Sorgen, manchmal hatte man sich verkalkuliert und das Geld reichte einfach nicht mehr für eine solche Anschaffung – es heißt nicht umsonst „irgendwas ist ja immer“.

Doch in jedem Jahr, wenn mich dann irgendwann die Weihnachtsstimmung packte und die Doris Day-Platte mit meinem Lieblingsweihnachtslied Silver Bells lief, schwärmte ich von Onkel Josefs kleinem bunten Weihnachtsbaum und sprach mit einem Pathos, bei dem Scarlett O’Hara neidisch geworden wäre, die feierlichen Worte: „Nächstes Jahr habe ich endlich auch so einen!“

Was draus wurde, ist seit ein paar Zeilen bekannt. Und dann erzählt mir mein Mann ganz nonchalant in einem Alltagstelefonat, DASS WIR SO EIN DING SCHON IMMER IM HAUS HATTEN, WÄHREND ICH NIX, ABER AUCH REIN GAR NIX DAVON WUSSTE??? UND DANN BESITZT ER AUCH NOCH DIE STIRN, DAS DING – WIE ES IN UNSEREM VIERTEL ÜBLICH IST – ZUM VERSCHENKEN AN DIE STRASSE ZU STELLEN?!?!

Ich verschob die geharnischte Standpauke auf später, beendete das Gespräch, nahm die Beine in die Hand und machte, dass ich nach Hause kam. Der Karton mit den ganzen anderen Kleinigkeiten, die mein Mann zum Verschenken rausgestellt hatte, war bereits leer. Doch der kleine Weihnachtsbaum war noch da. Er lehnte an der Hauswand. Mir kam es so vor, als habe er gezielt auf mich gewartet. Ich rettete ihn, nahm ihn mit nach oben, stellte ihn neben meinem Schreibtisch auf und legte ein paar Andenken an liebe Verwandte dazu, während zum ersten Mal Silver Bells erklang

Dann klaute ich meinem Mann die kompletten roten Gummiteddies aus der Tüte. Das 18jährige Vorenthalten wichtiger Informationen durfte schließlich nicht ohne Folgen bleiben! Männer hören einfach nicht zu… Tz!

Das ist die andere Seite: Alles so verrückt und komisch wie immer.

Eine merkwürdige Sache, dieses Leben…